6 Jahre, 7 Monate und 16 Tage - Die Morde des NSU

Dokumentarfilm | Deutschland 2017 | 77 Minuten

Regie: Sobo Swobodnik

Hochreflektierte, formal anspruchsvolle und perspektivreiche Dokumentation über eine Mordserie an Deutschtürken, einem Griechen und einer Polizistin, die zwischen September 2000 und April 2007 mutmaßlich vom so genannten Nationalsozialistischen Untergrund verübt wurde. Schilderungen der Tathergänge, Auszüge aus Ermittlungsprotokollen, Prozessaussagen und Statements von Hinterbliebenen werden aus dem Off von Schauspielern verlesen, während auf der Bildebene die Tatorte aus heutiger Perspektive in ihrer Normalität präsentiert werden. Der Film vermeidet das Spekulative, macht aber die Monstrosität der Verbrechen wie den „institutionellen Rassismus“ der Ermittlungsbehörden und der Medien sichtbar. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2017
Produktionsfirma
Guerilla Film Koop.
Regie
Sobo Swobodnik
Buch
Sobo Swobodnik
Kamera
Sobo Swobodnik
Musik
Elias Gottstein
Schnitt
Manuel Stettner
Länge
77 Minuten
Kinostart
18.05.2017
Fsk
ab 6 (DVD)
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Eine hochreflektierte Chronologie des öffentlichen Versagens

Diskussion
Ende April 2017 widmete sich die Fernsehdokumentation „Tod einer Polizistin“ der Ermordung von Michéle Kiesewetter, die 2007 auf der Heilbronner Theresienwiese erschossen wurde. Flott gemacht, mit viel Archivmaterial, Interviews, Re-Enactments und raunendem Off-Kommentar. Der Film bezweifelte, dass die Polizistin ein willkürlich ausgewähltes Opfer der NSU-Täter Böhnhardt und Mundlos gewesen sei. Stattdessen ging er alternativen Spuren nach, formulierte Zweifel an den Annahmen der Bundesanwaltschaft und hegte spekulative Verschwörungstheorien vom Ku-Klux-Klan bis hin zu US-Geheimdiensten. Vielleicht muss man einen Film wie „Tod einer Polizistin“ im Hinterkopf haben, um die formale Stärke eines diametral entgegengesetzten Werkes wie „6 Jahre, 7 Monate und 16 Tage“ von Sobo Swobodnik angemessen würdigen zu können. Es geht um die zehn Morde, die mutmaßlich vom NSU zwischen September 2000 und April 2007 verübt wurden. Der Filmemacher schafft zunächst Distanz, trennt die Bildebene des Films von der Tonebene. Eine Textcollage liefert kurze Schilderungen der einzelnen Tathergänge, präsentiert Ermittlungsprotokolle, Prozessaussagen, Statements von Hinterbliebenen der Opfer und Kriminologen, gelesen von Schauspielern des Berliner Ensembles. Erkennbar wird so die Individualität der Opfer, das Maß ihrer normalen Integration in die Gesellschaft und die Brutalität im Vorgehen der Täter. Erkennbar wird aber auch, wie routiniert und vorurteilsbehaftet die Ermittler versucht haben, ein bestimmtes Milieu zu konstruieren, um die Taten einzuordnen. Weil es sich bei den Opfern zumeist um Deutschtürken, einen Griechen und eben jene Polizistin handelte, die überhaupt nicht ins Raster zu passen schien, wird vorzugsweise in Richtung „Ausländerkriminalität“ ermittelt; schnell ist von Drogengeschäften, Wettbetrug, Spielschulden und Schutzgeld die Rede; in den Medien firmieren die Verbrechen als „Döner-Morde“, untersucht von der „SoKo Halbmond“. Auf diese Weise wurden die Opfer kriminalisiert. Für das Zusammenspiel von Ermittlungsbehörden und Medien scheint der Begriff des „institutionellen Rassismus“ tatsächlich zu passen. Auf der Bildebene korrespondiert die Distanz schaffende Textcollage mit einer nur scheinbar nüchternen Erkundung der einstigen Tatorte mit der Kamera, teilweise leicht verfremdet, teilweise aus ungewöhnlichen Perspektiven. Deutlich zu sehen ist dabei, dass die Morde mitten in der Alltäglichkeit exekutiert wurden, an vielbefahrenen Straßen, in gut frequentierten Wohn- und Einkaufsgebieten. Auch im Falle der toten Polizistin Kiesewetter ist immer wieder die Rede davon, dass der Tatort so öffentlich wie eine Bühne gewesen sei. Das Zusammenspiel von Bild- und Tonebene, unterlegt von einem differenzierten und mitunter beklemmenden Soundtrack von Elias Gottstein, macht nicht nur die Monstrosität der Mordserie greifbar, sondern hält auch die in vielfacher Hinsicht längst nicht geklärten Fragen offen, ohne sich im Spekulativen zu verlieren.
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