Dokumentarfilm | Deutschland/Schweiz 2017 | 105 Minuten

Regie: Milo Rau

Im Mai 2015 veranstaltete der Schweizer Theatermacher Milo Rau in Bukavu in der Demokratischen Republik Kongo sowie in Berlin das „Kongo Tribunal“, eine fiktive Gerichtsverhandlung, bei der die Ursachen und Hintergründe des Kongo-Kriegs untersucht wurden. Sein Dokumentarfilm zeichnet als Bearbeitung dieses symbolischen Prozesses ein durch Zeugenaussagen und Expertenmeinungen gestütztes Porträt des Wirtschaftskriegs und seiner neokolonialen Verflechtungen. Ein bewegendes, interessantes und bereicherndes Projekt, auch wenn sich der herkömmliche Dokumentarfilm als nur unzureichendes Format erweist, die Komplexität dieses Kriegs abzubilden. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
DAS KONGO TRIBUNAL
Produktionsland
Deutschland/Schweiz
Produktionsjahr
2017
Produktionsfirma
Langfilm/Fruitmarket Kultur und Medien/IIPM - International Institute of Political Murder/SRF/ZDF/arte
Regie
Milo Rau
Buch
Milo Rau
Kamera
Thomas Schneider
Musik
Marcel Vaid
Schnitt
Katja Dringenberg
Länge
105 Minuten
Kinostart
16.11.2017
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Bewegendes und bereicherndes Doku-Projekt von Milo Rau

Diskussion
In Mutarule, einem Dorf im Osten des Kongo, führt ein aufgelöster Bewohner den Schweizer Theatermacher Milo Rau zu einem Leichenberg. Die Kamera eilt hinterher. Der Mann zieht ein Tuch, das eine Babyleiche abdeckt, zur Seite und berichtet, dass es bereits das dritte Massaker in Mutarule sei, sich jedoch bis jetzt kein Regierungsvertreter im Dorf habe blicken lassen. Eine andere Augenzeugin ist unmittelbar von den Gräueltaten betroffen, ihre gesamte Familie wurde ermordet. Das Filmmaterial ist Beweismaterial. Gezeigt und ausgewertet wird es im Rahmen eines fiktiven Prozesses, des „Kongo Tribunals“. Rau, einer der wichtigsten Protagonisten des Dokumentartheaters, hat das dreitägige Reenactment im Mai 2015 veranstaltet: zunächst in Bukavu in der Demokratischen Republik Kongo und dann in Berlin. Aus dem Material ist nun auch ein Film entstanden. Die Form des theatralisierten Tribunals steht in einer historischen Tradition. 1966 fand das erste Russell-Tribunal (bekannt auch als Vietnam War Crimes Tribunal) unter der Beteiligung u.a. von Bertrand Russell, James Baldwin und Jean-Paul Sartre statt. Es ging um die Untersuchung und Dokumentation US-amerikanischer Kriegsverbrechen im Vietnam-Krieg. Auch Rau brachte zuvor schon einige Tribunale auf die Bühne, etwa „Die Moskauer Prozesse“ (über die feministische, regierungskritische Punk-Rock-Gruppe Pussy Riot) und „Die Zürcher Prozesse“ (über die mediale Einflussnahme der Wochenzeitung „Die Weltwoche“). „Das Kongo Tribunal“ ist ein symbolischer Akt. Er füllt eine juristische Lücke. Denn die Verbrechen im seit bald mehr als 20 Jahre andauernden Kongokrieg, der über sechs Mio. Tote forderte, sind bis heute ungestraft. Unter großem Zuspruch der regionalen Bevölkerung wurden drei Fälle mit Hilfe von Zeugen und Experten (Menschenrechtsaktivisten, Mitarbeiter von NGO’s, Wissenschaftler, Rohstoffhändler, Anhänger der Milizen etc.) unter dem Vorsitz von Jean-Louis Gilissen, Mitbegründer des Den Haager Strafgerichtshofs, untersucht: das Massaker in Muturale und die Zusammenhänge um zwei für die Mineralstoffgewinnung bedeutende Minen (zu den Folgen gehören gewaltsame Vertreibung und Enteignung, Vergiftung von Wasser und Boden). Das Land ist reich an Bodenschätzen, an Gold, Kobalt und Coltan, Mineralien, die sich in nahezu jedem elektronischen Gerät verarbeitet finden. Denkt man die Handelskette zu Ende, landet man unweigerlich beim eigenen Mobiltelefon. „Truth and Justice“ steht auf einem Banner, das an prominenter Stelle im Gerichtssaal hängt. Raus Anspruch ist groß, wenn nicht gar ein wenig vermessen. Nichts weniger als ein Gesamtbild neokolonialer Verflechtungen soll bei dem Prozess skizziert werden, entlang von komplexen Fragen wie: Bestärken die multinationalen Bergbaufirmen die ethnischen Konflikte? Was ist die Rolle der Weltbank, wie verhält sich die UNO? Warum essen die Kongolesen importierte Bohnen und Reis, wo doch das Land so fruchtbar ist, dass es drei Ernten im Jahr gibt? Warum schließen sich Minenarbeiter bewaffneten Milizen an? Wo landen die enormen Profite aus den Minen? Als Einstieg in die Situation in der Demokratischen Republik Kongo ist der Film durch seine Materialfülle ein enormer Gewinn, auch als symbolpolitische Geste macht das Projekt absolut Sinn. Gerade bei der örtlichen Bevölkerung stieß das Tribunal auf großen Zuspruch, und für manche Betroffene hat es möglicherweise auch den psychoanalytischen Effekt einer „Redekur“. Aber schnell wird auch klar, dass das, was im „Kongo Tribunal“ an Fakten und Hintergründen in drei Tagen gesammelt, ausgebreitet und besprochen wurde, unmöglich in das Format eines Dokumentarfilms passt. So dringt der Film ab einem gewissen Punkt nicht weiter in die Tiefe, vor allem nicht analytisch ins Material ein. Die bewegenden, insgesamt aber stark verkürzten Zeugenaussagen erzeugen ein etwas unterkomplexes Bild, das von den Analysen der Experten nur unzureichend ergänzt werden kann. Dem Film fehlt etwas sehr Einfaches: Zeit. Nicht von ungefähr dauert Claude Lanzmanns „Shoah“ (fd 25 510) 540 Minuten. Auch in der Verbindung von Dokumentarfilm und filmischer Dokumentation eines Dokumentartheaterstücks geht etwas verloren – vor allem die performativen Potenziale des Theaters kommen zu kurz. Der Film ist allerdings nicht die letzte Station des Projekts; das mehr als 250 Stunden umfassende Material soll online verfügbar gemacht werden, auch ein Doku-Game und ein Buch sind geplant. Man sollte ihn also eher als eines von vielen Elementen innerhalb Raus Auseinandersetzung mit dem Wirtschaftskrieg im Kongo sehen, als Teil eines Work in Progress mit offenem Ausgang.
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