Die Geister, die mich riefen

Dokumentarfilm | Deutschland 2016 | 107 Minuten

Regie: Diana Näcke

Ein korpulenter, alleinstehender 44-jähriger türkischer Feigenverkäufer, der in Deutschland lebt, macht sich gemeinsam mit der Filmemacherin auf eine lange Reise in sein Heimatdorf im äußersten westlichen Zipfel der Türkei, wo er seit 24 Jahren nicht mehr war. Gerät das dokumentarische Porträt des sympathischen Protagonisten vor allem im ersten Teil der Reise zu lang und redundant, gewinnt es vor Ort auch dank der melancholisch-anrührenden Musik und des subtilen Humors an Dichte und mündet schließlich in die intensiv-bedrückende Beschreibung eines autoritär und auch barbarisch gewordenen Landes. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
Indi Film
Regie
Diana Näcke
Buch
Diana Näcke
Kamera
Diana Näcke · Kathrin Krottenthaler
Musik
Masha Qrella
Schnitt
André Nier
Länge
107 Minuten
Kinostart
09.11.2017
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Intensiv-bedrückende Beschreibung eines autoritär und auch barbarisch gewordenen Landes

Diskussion
Engin steht auf dem Markt und preist seine Ware an: „Feigen aus der Türkei, eine Kiste fünf Euro, Feigen sind süß, alle süß, ich bin süß.“ Das ist, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so wirkt, eine zutreffende Selbstbeschreibung: Engin kommt aus der Türkei. Seit er zehn Jahre alt ist, lebt er in Deutschland, geboren wurde er ebenfalls hier. Und er ist tatsächlich auch süß, das heißt, der 44-jährige ledige Mann, der um die 100 Kilo wiegen dürfte, hat ein kindliches Gemüt, ist ein bisschen Kind geblieben. In ihrem zweiten Langfilm ermutigt ihn die Berliner Filmemacherin Diana Näcke, sich gemeinsam auf eine Reise zu machen, in sein Heimatdorf im äußersten westlichen Zipfel der Türkei, wo seine Mutter inzwischen wieder lebt und das er, wie die Türkei überhaupt, ein wenig verherrlicht. Die Tauben, so führt er zu Beginn aus, würden ja in Deutschland als „fliegende Ratten“ verunglimpft, in der Heimat dagegen „sind das heilige Vögel, sie halten die Moscheen sauber“. Was später im Film noch widerlegt werden wird. 24 Jahre lang war Engin nicht in der Türkei. Auch in einem Streit um ein Grundstück möchte er helfen. Zunächst braucht er allerdings ein Attest, das ihn vom türkischen Wehrdienst befreit. Engin ist zuckerkrank und geht ins Krankenhaus. Sein besorgniserregender Zuckerwert ist ihm herzlich egal, er will nur das Attest, um ein Vielfaches scheint er den Pieks, den die Blutabnahme erfordert, zu fürchten. Es dauert in etwa den halben Film, bis die Regisseurin und ihr Protagonist schließlich im Dorf Yildirim ankommen. Ein Versuch davor ist in Rumänien gescheitert; dann haben sie Engins Auto genommen, eine schicke schwarze Mercedes-Limousine, die sich im Dorf als genau das ausnimmt, was sie ist: ein Statussymbol, aber eben nicht, wie in Deutschland, eines unter vielen. Der erste Teil des Films geriet deutlich zu lang, anfangs geht es wesentlich darum, den Protagonisten zu charakterisieren, vieles aber wiederholt sich. Ein entschlossenerer, stringenterer Schnitt hätte womöglich etwas ausrichten können, so geht das chronologische Konzept nicht ganz auf. Wesentlich konsequenter – allerdings eben gerade nicht chronologisch – war Näckes erster Film „Meine Freiheit, deine Freiheit“ (fd 41 097) um zwei junge Straftäterinnen, montiert von Inge Schneider („Prinzessinnenbad“ (fd 38 178)), mit der die Regisseurin hier nicht mehr zusammenarbeitete. Dass der Film zu lang ist, lässt ihn zwar etwas zerfasern, weitgehend ausgeglichen wird dies jedoch durch die melancholisch-anrührende Musik der Berliner Songwriterin Masha Qrella, den sympathischen Protagonisten und den subtilen Humor, gerade auch in den Bildern. In einer Szene gegen Ende nimmt der Film dann noch einmal eine schockierende Wendung. Plötzlich, sehr unerwartet, kommt er auf den Punkt und erzählt davon, zu was für einem autoritären, auch barbarischen Land die Türkei Erdogans wird, zu was sie schon geworden ist. Da will Engin nur noch nach Hause. Das ist Berlin, Deutschland.
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