Die rote Schildkröte

Animation | Frankreich/Belgien/Japan 2016 | 81 Minuten

Regie: Michael Dudok de Wit

Eine riesige rote Schildkröte hindert einen Schiffbrüchigen daran, eine einsame Insel zu verlassen. Nachdem er das Tier wutentbrannt tötet, verwandelt es sich in eine junge Frau, mit der er ein neues Leben beginnt. Der melancholisch-poetische Zeichentrickfilm verzichtet vollständig auf Dialoge und erzählt in betörend schönen Bildern eine vielschichtige Geschichte über den Kreislauf des Lebens sowie über Schuld und Vergebung. Die universale Parabel spielt mit poetischen Bildern, bleibt dabei konfliktarm und wirkt mitunter etwas unverbindlich, lässt gleichwohl aber viel Raum für eigene Gedanken. - Sehenswert ab 12.
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Filmdaten

Originaltitel
LA TORTUE ROUGE
Produktionsland
Frankreich/Belgien/Japan
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
Prima Linea Prod./Why Not Prod./Wild Bunch/Studio Ghibli/CN4 Prod./Arte France Cinéma/Belvision
Regie
Michael Dudok de Wit
Buch
Michael Dudok de Wit · Pascale Ferran
Musik
Laurent Perez del Mar
Schnitt
Céline Kélépikis
Länge
81 Minuten
Kinostart
16.03.2017
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 12.
Genre
Animation
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Heimkino

Die Standardausgabe (DVD) enthält keine erwähnenswerten Extras. Die Extras der wertig aufgemachten "Studio Ghibli Collection" (DVD & BD) umfasssen indes u.a. zwei sehr aufschlussreiche Feature über den Entstehungsprozess des Films: "Die Geburt der roten Schildkröte" (54 Min.) und "Making of" (55 Min.) sowie die Featurette "Zeichenstunde mit Michael Dudok de Wit" (17 Min.). Die Edition ist mit dem Silberling 2017 ausgezeichnet.

Verleih DVD
Universum (16:9, 1.85:1, DD5.1)
Verleih Blu-ray
Universum (16:9, 1.85:1, dts-HDMA)
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Betörende Animationsparabel über den Kreislauf des Lebens anhand eines Schiffbrüchigen, der auf einer einsamen Insel strandet.

Diskussion

Eine unbändige Wut packt den Schiffbrüchigen, als die prächtige rote Schildkröte an Land geschwemmt wird. Dieses Tier ist schuld daran, dass alle seine Versuche, mit einem Floß von der einsamen Insel zu fliehen, gescheitert sind. Jetzt will er sich rächen. Er rennt zum Strand, den die Abenddämmerung blutrot gefärbt hat, und zertrümmert einen schweren Stock auf dem Schädel der Schildkröte. Danach wuchtet er den schweren Körper auf den Rücken, springt auf den Bauch der wehrlosen Kreatur, schreit ihr seine Wut ins Gesicht. Während sie verendet, schwimmt der Mann im Meer. Erst als er den leblosen Körper am nächsten Tag zaghaft berührt, wird ihm bewusst, was er getan hat. Und er traut seinen Augen nicht, als die Schildkröte sich in eine Frau mit leuchtend roten Haaren verwandelt.

Es beginnt wie eine animierte Robinson-Crusoe-Geschichte an bekannten Schauplätzen. Schon in den ersten Bildern lässt der Film durch seine mächtige Tonkulisse die Natur in all ihren Facetten greifbar werden. Doch an einem klassischen Abenteuerfilm hat der niederländische Regisseur Michael Dudok de Wit kein Interesse. In seinem ersten Langfilm baut er vielmehr die Welt weiter aus, die er in seinen melancholisch-poetischen Kurzfilmen skizziert hat. Gleichnishaft und vollkommen ohne Dialoge erzählt er von schweigsamen Menschen, die durch ihre Blicke verbunden werden, über die Sehnsucht, über Schuld und Vergebung, den Tod und den Neubeginn.

Die Wiedergeburt der Schildkröte birgt eine zweite Chance. Denn denselben Fehler will der namenlose Schiffbrüchige nicht noch einmal machen. Er kümmert sich um die Frau, die langsam zu Kräften kommt, er teilt seine Kleidung mit ihr. Und sie scheint ihm zu verzeihen. Es dauert nicht lange, bis die beiden eine Familie gründen. Ein Sohn kommt zur Welt – und aus der Insel, die der Schiffbrüchige vor nicht allzu langer Zeit noch als Gefängnis empfunden hatte, wird sogar so etwas wie ein kleines Paradies. Bis der Sohn groß wird und die Welt sehen möchte.

Man kann sich treiben lassen angesichts der schönen handgezeichneten Bilder, die trotz der reduzierten Farbpalette immer auch etwas Wärme ausstrahlen. Unaufgeregt fließen sie dahin, so leicht und unangestrengt wie die ganze Geschichte. Man beobachtet die Krabben am Strand, das Spiel der Wolken am Himmel, die sich je nach Tageszeit verändernden Schatten, den Kreislauf des Lebens. Man taucht hinab ins Meer oder fliegt in Tagträumen hinauf in den Himmel. Den einzigen kurzen dramatischen Höhepunkt bildet ein Tsunami, der über die Insel hinwegfegt.

Dudok de Wit liebt die Totalen und zieht diese den Nahaufnahmen vor, er schafft ein Gefühl für den Raum, in dem die Figuren leben, und hat doch auch den Mut, eine ausdrucksstarke Leere in den Bildern zuzulassen. Die großen Entscheidungen in der Familie vermitteln sich allein über wenige, aber vielsagende Blicke – und es ist meisterhaft, wie es den Animatoren gelingt, die Vielschichtigkeit nonverbaler Kommunikation in derart reduzierte und nuancierte Zeichnungen zu übertragen.

Wie in seinem Kurzfilm „Father & Daughter“ (2000) liegt die große Stärke von „Die rote Schildkröte“ darin, vielfältige Gefühlszustände in betörend schöne Bilder zu übertragen und diese so lebendig werden zu lassen. Der Film lässt Raum für eigene Gedanken und spielt mit poetischen Bildern. Und doch bleibt er, vielleicht gerade deshalb, weil er auf Dialoge verzichtet, ein wenig unverbindlich. Alles fließt hier ziemlich gleichbleibend: das Leben, die Liebe und der Schmerz.

Was dem japanischen Regisseur Isao Takahata an dem Stil von Dudok de Wit gefallen hat, der das Studio Ghibli, das wohl einflussreichste Anime-Studio Japans der vergangenen drei Jahrzehnte, als Produktionspartner mit an Bord brachte, erschließt sich im Laufe des Films sehr schnell. Wie die meisten Ghibli-Filme enthält auch „Die rote Schildkröte“ Momente der Erhabenheit, in denen die Figuren ganz auf sich zurückgeworfen werden, in denen sie über die Schönheit der Natur staunen und in denen die Zeit stillzustehen scheint. Ein Hauch von Shinto weht durch diesen kontemplativen Animationsfilm, der eine Brücke zwischen Japan und Europa schlägt.

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