Havarie (2016)

Dokumentarfilm | Deutschland 2016 | 97 Minuten

Regie: Philip Scheffner

Ein Kreuzfahrtschiff sichtet am 14. September 2012 zwischen Spanien und Algerien ein manövrierunfähiges Schlauchboot mit Flüchtenden. Der experimentelle Dokumentarfilm reduziert diese 90-minütige „Begegnung“ visuell auf rudimentäre „Youtube“-Bilder, während sich auf der Tonspur ein dichtes Geflecht aus Erzählungen und Atmosphären entfaltet. Das überzeugende Essay ist ein Musterbeispiel für das produktive Zusammenspiel von intensiver politischer Reflexion und künstlerisch-formalem Radikalität. Durch die raffinierte visuelle Reduktion kommt der Zuschauer nicht umhin, sich selbst mit dem Geschehen in Bezug zu setzen. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
Pong Film/Blinker Filmprod./Worklights Media Prod./ZDF/arte
Regie
Philip Scheffner
Buch
Merle Kröger · Philip Scheffner
Kamera
Terry Diamond · Bernd Meiners
Musik
Blue Waters Band
Schnitt
Philip Scheffner
Länge
97 Minuten
Kinostart
26.01.2017
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
IMDb | TMDB

Doku-Essay über die Begegnung eines Kreuzfahrtschiffes mit einem Flüchtlingsboot im Mittelmeer. Regie: Philip Scheffner

Diskussion
Wenn man heutzutage eine Mittelmeer-Kreuzfahrt auf einem Luxusliner namens „Adventure of the Seas“ bucht, ist die Begegnung mit Geflüchteten auf hoher See fast Teil des Programms. Gesetzt, man begegnet dann tatsächlich einem kleinen Schlauchboot, stellt sich womöglich die Frage, wie man sich angemessen verhalten soll. Geholfen wird ja wohl werden, also kann man schauen, fotografieren oder, wie es in Philipp Scheffners „Havarie“ einmal heißt, „winken wie eine Königin“. Man erscheine den Flüchtenden ja als Symbol der Hoffnung. „Havarie“ hat einen präzisen Ort: 37° 28.6`N 0°3.8`E. In der Nähe der spanischen Küste traf die „Adventure of the Seas“ am 14. September 2012 auf ein havariertes Schlauchboot mit Geflüchteten. Der irische Reisende Terry Diamond filmte dies und stellte das Dokument anschließend auf YouTube, wo der Clip unter dem Titel „refugees“ noch immer zu sehen ist. Die Begegnung beider Schiffe dauerte insgesamt rund 90 Minuten, weil das Kreuzfahrtschiff vor Ort bleiben musste, bis Hilfe eingetroffen war. Erst danach konnte die „Adventure of the Seas“ ihre Fahrt fortsetzen. Den dreieinhalbminütigen YouTube-Clip entdeckten Scheffner und seine Co-Autorin Merle Kröger eher zufällig. Die Konstellation, die er dokumentierte, erschien den Filmemachern in ihrer Dialektik von Nähe und Distanz, Realität und Fantasie interessant genug, um dem Film hinterher zu recherchieren. So entstanden zahlreiche Gespräche mit einzelnen Personen wie Terry Diamond und anderen Augenzeugen des Ereignisses, aber auch mit Menschen, die hier oder bei anderen Reisen hätten dabei sein können. Es ging also um die Schaffung eines Möglichkeitsraums, der das Bild der „Begegnung“ um biografische Erzählungen ergänzt. Doch als im Lauf des Jahres 2015 die Bilder von Geflüchteten in Schlauchbooten auf dem Mittelmeer zum „Alltag“ wurden, realisierte Scheffner, dass sein bereits fertiger Film eine Reihe individueller Geschichten vor die Geschichten „aller anderen“ schiebe, was das Wissen um all die anderen für den Zuschauer erträglicher mache, also die Funktion konventioneller Dokumentationen erfülle. Als ästhetische Antwort dieser politischen Infragestellung der eigenen Arbeit entschied er sich für eine radikale, unerhört weitreichende Änderung seiner Konzeption: Nun bestimmt die visuelle Ebene von „Havarie“ eine extrem verlangsamte Version des YouTube-Clips von Terry Diamond, die von 3:36 Minuten auf jene 90 Minuten gestreckt wurde, die die Begegnung insgesamt dauerte. Durch die Verlangsamung kommt es zu Unschärfen und Phantombildern: Inmitten einer fast monochrom-blauen Bildfläche ist ein schwarzer Punkt auszumachen, der mal mehr, mal weniger zentral, mal näher, mal entfernter ist. Zu diesem visuellen Motiv entfaltet sich auf der Tonspur ein Geflecht aus Stimmen, die aus dem ursprünglichen Film stammen, ergänzt um den Funkverkehr zwischen dem Kreuzfahrtschiff und der spanischen Seenotrettung, Hintergrundgeräuschen und Atmosphärischem vom Kreuzfahrtschiff. Durch die visuelle Reduktion des Films erhält man viel Raum, um sich in der Tonspur umzuhören, die Geschichten zueinander und zum Filmbild in Beziehung zu setzen – ohne in eine konventionelle Betrachterrolle „flüchten“ zu können. Umso größer ist die Überraschung zur Mitte des Films (also auch zur Mitte des YouTube-Clips), als die Kamera den Fokus verändert, sich vom Schlauchboot „distanziert“ und durch „Schwenks“ nach rechts und links plötzlich den Ort ins Bild setzt, von dem aus der Blick geworfen wird. Mit all den anderen Kreuzfahrern, die sich gerade ein Bild davon machen, was sie da im Wasser treiben sehen. Es ist erstaunlich, welche Qualität der Film durch diese radikale Änderung des Konzepts erfahren hat. Vielleicht lässt sie sich zu einem späteren Zeitpunkt einmal exemplarisch fassen und beschreiben, wenn – wie offenbar geplant – später einmal „Havarie I“ und „Havarie II“ einander ergänzend konfrontiert würden. Hinzu kommt, dass die Co-Autorin Merle Kröger wie schon bei „Revision“ (fd 41 271) die gemeinsame Recherche zu einer eigenständigen Doku-Fiktion weiterentwickelt hat; die Recherche zum Film fand ihren Niederschlag in einem gleichnamigen Krimi zum Film (CulturBooks Verlag, 2015). Ein hochinteressantes, politisch sehr reflektiertes crossmediales Arbeitsmodell, das an Harun Farockis Konzept eines Verbundsystems erinnert, in dem durch den Verbund der Produktion kaum Energie verlorengeht.
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