Herkules (2016)

Dokumentarfilm | Deutschland 2016 | 75 Minuten

Regie: Volker Meyer-Dabisch

Langzeitdokumentation über den Kreuzberger Kohlehändler Ahmed Özdemir und seinen Laden, in dem nicht nur Kohle, sondern auch Meinungen, Trost und menschliche Wärme umgeschlagen werden. Der Film verbindet Momentaufnahmen mit selten dokumentierter Alltagsgeschichte und fängt nebenbei die Veränderungen des Stadtviertels ein. Die beobachtende Teilnahme am Leben „kleiner“ Leute porträtiert insbesondere die türkischstämmige Normalität in Berlin, ebenso ihre Fähigkeit, den Herausforderungen des Lebens mit Witz, Gleichmut und einem unbedingten Überlebenswillen zu begegnen. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
Karl Handke Filmprod.
Regie
Volker Meyer-Dabisch
Buch
Volker Meyer-Dabisch
Kamera
Andreas Gockel · Sven Klages · Volker Meyer-Dabisch
Schnitt
Volker Meyer-Dabisch
Länge
75 Minuten
Kinostart
30.03.2017
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm

Dokumentarisches Porträt über den Berlin-Kreuzberger Kohlehändler Ahmed Özemir

Diskussion
Bis zu 100 Kilo schwere Kohlensäcke hat Ahmed Özdemir früher die Treppenhäuser in Kreuzberg hochgeschleppt. Seit 35 Jahren ist er Kohlehändler in der Ohlauer Straße; erst vor kurzem hat er seinen Laden aufgegeben. Der Dokumentarfilmer Volker Meyer-Dabisch porträtiert mit ihm erneut ein Stück unspektakulärer, aber authentischer Berliner Geschichte und fängt dabei en passant ein, wie sich das Stadtviertel verändert hat. In Filmen wie „Der Adel vom Görli“ (fd 40 266) oder „Von Hohenschönhausen nach Niederschöneweide“ (fd 42 678) hat Dabisch schon früher Berliner Geschichte und Geschichten von unten protokolliert. Sein Augenmerk liegt auf sogenannten „kleinen Leuten“, an deren Leben er beobachtend teilnimmt. Momentaufnahmen von Grenzgängern zwischen Existenzkampf und Szene, Lokalkolorit und Veränderungsdruck, mit eindeutig verteilter Sympathie und damit oft voraussehbar. „Herkules“ ist ein wenig anders. Der Dokumentarfilm versammelt Aufnahmen, die zwischen 2001 und heute gedreht wurden. Zwischendurch entstand daraus der Kurzfilm „Kohle, Kohle“. Im Zentrum steht der Kohleladen, eine Institution nahe dem Spreewaldbad. Hier wird nicht nur Kohle umgeschlagen, sondern auch Meinungen, Trost, menschliche Wärme. Ab und zu kommen die Kinder vorbei, wollen Geld fürs Schwimmengehen, für die Klassenfahrt. Ehefrau Sevilai führt die Familiengeschicke mit harter, aber herzlicher Hand, Vater Ahmed spendet dazu den passenden, wärmenden Humor, den er bis heute behalten hat. Als sich das Kohlegeschäft Ende der 1990er-Jahre nicht mehr lohnte, versuchte Özdemir es erst mit einer Kneipe, dann mit Backwaren. Beides hat nicht geklappt. Dafür gab es dann im Kohleladen Spätkauf-Artikel. Eine Mittdreißigerin ordert „zwei Flaschen Wodka für den Göttergatten“, Ahmed winkt ab: „Ach, der Alkohol.“ Eine Afrikanerin feilscht in unbeholfenem Deutsch um den Preis für zwei Träger Briketts – „Du bist Ausländer, ich bin Ausländer, beide verstehen wir nicht.“ Doch „Herkules“ ist kein romantischer Dokumentarfilm über die Seele der Stadt. Heute sind Ahmed und Sevilai geschieden, der Laden ist geschlossen, aber das Leben geht weiter, irgendwie. Nach 35 Jahren Kohleschleppen kommentiert Ahmed mit berlinisch-türkischer Nonchalance, irgendwo zwischen Trotz, Selbstverachtung und einem letzten Funken Hoffnung: „Die ganzen Träume, die ganze Arbeit, alles umsonst.“ Und verrät im nächsten Satz, dass er demnächst einen Eisladen aufmachen will. Sohn Oktay Özdemir hat es mit viel Arbeit zum Schauspieler („Knallhart“, „Kreuzkölln“) gebracht. Aber auch Ahmed kommt immer wieder auf die Füße. Mit viel Überlebenswillen und viel Seele, aber nicht immer mit dem nötigen Glück. So verbindet die Langzeitdokumentation Momentaufnahmen, die längst Geschichte sind, mit selten dokumentierter Alltagsgeschichte: Wie finden Mann und Frau unter den Türken in Berlin zueinander? Was passiert dort nach einer Scheidung? Wieviel besser sprechen ihre Kinder Deutsch? Dabisch kommt das Verdienst zu, die türkischstämmige Berliner Normalität mit ihrer besonderen Fähigkeit, den Alltag zu bewältigen, überhaupt einmal in den Blick zu heben, auch wenn manche Interviewpassagen etwas lang geraten sind. Vielleicht führt der Film Volker Meyer-Dabisch ja auch dazu, demnächst mit der Kamera den türkischstämmigen Familien nachzuforschen, die aus dem Herzen der Stadt an die Peripherie, in die in den 1970er-Jahren entstandenen Großsiedlungen verdrängt wurden. Auch dies wären Geschichten, die sich wie die von Ahmed und seinem Kohleladen zu erzählen lohnten.
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