In den letzten Tagen der Stadt

Drama | Ägypten/Deutschland/Großbritannien/Vereinigte Arabische Emirate 2016 | 118 Minuten

Regie: Tamer El Said

Ein junger Regisseur, der an seinem ersten Film arbeitet, streift im Jahr 2010 auf der Suche nach einer Wohnung durch die Straßen Kairos und rekonstruiert die Geschichte seiner Familie. Vielgestaltiger Debütfilm, der verschiedene Perspektiven, Materialien, Stilmittel und Formen zu einer zugleich fiktionalen und dokumentarischen subjektiv-essayistischen Betrachtung der ägyptischen Wirklichkeit verbindet. Dabei gelingt eine eindrucksvolle märchenhafte Suche nach der verlorenen Zeit, aber auch ein hellwaches Stück Gegenwartskino, das sich als Kommentar zur herrschenden Mentalität des Landes nach Revolution und arabischem Frühling lesen lässt. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
AKHER AYAM EL MEDINA
Produktionsland
Ägypten/Deutschland/Großbritannien/Vereinigte Arabische Emirate
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
Zero Prod./Mengamuk Films/Sunny Land Film/Autonomous
Regie
Tamer El Said
Buch
Tamer El Said · Rasha Salti
Kamera
Bassem Fayad
Musik
Amélie Legrand · Victor Moïse
Schnitt
Mohamed Abdel Gawad · Vartan Avakian · Barbara Bossuet
Darsteller
Khalid Abdalla (Khalid) · Laila Samy (Laila) · Hanan Youssef (Hanan) · Maryam Saleh (Maryam) · Hayder Helo (Hassan)
Länge
118 Minuten
Kinostart
07.09.2017
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Der Ägypter Tamer El Said betreibt eine märchenhafte Suche nach der verlorenen Zeit - Ausgezeichnet mit dem "Caligari Filmpreis" 2016

Diskussion
Ein junger Mann streicht durch die Metropole Kairo, vorbei an kleinen Läden, an Autos, die im ständigen urbanen Stau vor sich hin kriechen, an fahrenden Händlern, die sie mit ihren Holzkarren überholen. Im Hintergrund sieht man den Nil, prachtvoll im goldgelben Abendlicht, wie er schon zur Zeit der Pharaonen dagelegen haben mag, die unzähligen Parks, die uns Europäern unbekannte Pracht der Metropole Kairo. Immer wieder sitzt der junge Mann im Café. Er heißt Khalid, hat trotz seines Alters bereits schütteres Haar und sucht eine neue Wohnung, denn aus seiner liebgewordenen alten muss er ausziehen. So lernt man ihn kennen, einen Filmemacher, der an seinem ersten Film arbeitet und für den Zuschauer in Bild wie Ton nachvollziehbar die Geschichte seiner Familie rekonstruiert. Der Vater ist tot, die eine Schwester starb bereits als kleines Mädchen bei einem Autounfall in Libyen, die andere Schwester trifft er noch gelegentlich, wie auch seine Mutter, die schwerkrank im Krankenhaus liegt. Ein Stabwechsel der Generationen. Eine Reise zwischen der Erinnerung an Ägyptens große Geschichte und der unsicheren Zukunft: Khalids Freundin, eine moderne emanzipierte Frau, hat ihn verlassen, weil sie die repressive Stimmung im Land nicht mehr erträgt. Es ist das Jahr 2010, also noch kurz vor dem arabischen Frühling, der auch Ägyptens „modernen Pharao“ Mubarak stürzte. Im Hintergrund berichten zwischen Fußballspielen und billigsten Unterhaltungsshows die Fernsehnachrichten von Unruhen und kündigen bereits das Kommende an. Mit Khalid und seinem Makler, mit dem der Filmemacher regelmäßige Wohnungsbesichtigungen unternimmt, lernen die Zuschauer diesen langen Winter vor der Revolution kennen. Und man entdeckt durch die Kaffeebesuche, Khalids Erinnerungen und durch die Geschichten, die die Wohnungen erzählen, auch Ägyptens Hauptstadt Kairo als einen lebendigen, vom alltäglichen Leben erfüllten Organismus, zugleich als Landkarte der Sehnsüchte und Träume, als Traumfabrik. Khalid hat drei enge Freunde. Sie treffen sich regelmäßig, reden, tauschen Sorgen, Träume, Erlebnisse, Gefühle. Irgendwann treffen sie sich zum letzten Mal, bevor sie sich am nächsten Morgen trennen, und während Khalid in Kairo bleiben wird, geht der eine nach Berlin, der zweite nach Beirut in den Libanon, der dritte nach Bagdad. Auf aufregende Weise visualisiert der Film dann kurz die Zukunftsträume der drei und spielt in solchen Augenblicken dann auch mit dem, von dem man im Publikum schon mehr weiß: Was kommen wird in diesen Ländern, wie in Ägypten. „In den letzten Tagen der Stadt“, das Langfilmdebüt des ägyptischen Regisseurs Tamer El Said, verbindet diverse Perspektiven, Filmmaterialien, Stilmittel und Formen. Es ist ein Film, der zugleich fiktional und dokumentarisch ist, in seinem Kern vor allem aber eine subjektiv-essayistische Betrachtung. „In den letzten Tagen der Stadt“ ist ein intimes Selbstporträt des Regisseurs, der biografische Elemente, Anekdoten und Figuren (die kranke Mutter im Film ist die des Regisseurs) unverblümt in den Film einfügt, wobei Tamer El Said trotzdem nicht mit seiner Hauptfigur Khalid (im Film gespielt von dem in Großbritannien lebenden Khalid Abdalla) zu verwechseln ist. Dies ist auch eine Selbstreflexion des Mediums, ein Film über das Filmemachen, und zugleich eine sehr politische Betrachtung Ägyptens vor der Revolution. El Said stellt sich die Frage, wie man das Universum einer Stadt im Kino überhaupt erzählen könnte. Sein Film beantwortet sie aufs Überzeugendste: fragmentarisch, mit wachem Auge dem Zufall sich hingebend und zugleich durch ausgefeilte Inszenierungskunst. Nostalgie und Sinnlichkeit sind hier mit Intelligenz verbunden. Dies ist ein Film, der große Vorbilder kennt, ob sie nun Roberto Rossellini, Jean-Luc Godard, Chris Marker oder vielleicht auch Dominik Graf heißen – der sich aber nie sklavisch von ihnen abhängig macht. Er stellt dem Betrachter indirekt und voller stilistischer List unter der Hand eine ganze Region vor, die viel zu Unrecht lange im Schatten lag und jetzt zwar im Fokus der Nachrichten liegt, deren Wahrnehmung aber von den Wolken der Dummheit und der Vorurteile immer wieder verdunkelt wird. Obendrein ist „In den letzten Tagen der Stadt“ ein sehr origineller Film, ein Paradebeispiel für Engagement und künstlerischen Aktivismus jenseits des allzu Erwartbaren, dafür, dass es im Kino nicht darum geht, „politische Filme zu machen, sondern politisch Filme zu machen“ (Godard). Tamer El Said gelingt eine märchenhafte Suche nach der verlorenen Zeit und dabei ganz gegenwärtiges, hellwaches Kino.
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