Dokumentarfilm | Österreich/Deutschland 2017 | 107 Minuten

Regie: Michael Glawogger

Ein nachgelassenes Filmprojekt des Dokumentaristen Michael Glawogger (1959-2014), der im Dezember 2013 zu einer ziellosen Reise Richtung Süden aufbrach, um in einer von Konzepten und Theorien unverstellten Erfahrung von Welt unverbrauchte Bilder zu suchen. Nach seinem Tod im April 2014 hinterließ Glawogger neben Notizen und Aufzeichnungen auch 70 Stunden Filmmaterial, aus dem seine langjährige Cutterin Monika Will ein radikal diskontinuierliches Werk geschnitten hat, das wild zwischen Ländern und Kontinenten, Menschen und Tieren, Wichtigem und Beiläufigem springt. So entstand ein eindrucksvoller Film über Unbekanntes, die Suche danach und die Sehnsucht nach Sinnstiftendem. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
UNTITLED
Produktionsland
Österreich/Deutschland
Produktionsjahr
2017
Produktionsfirma
Lotus Film/Razor Film
Regie
Michael Glawogger · Monika Willi
Buch
Michael Glawogger · Attila Boa · Monika Willi
Kamera
Attila Boa
Musik
Wolfgang Mitterer
Schnitt
Monika Willi
Länge
107 Minuten
Kinostart
26.10.2017
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Das letzte Filmprojekt von Michael Glawogger, als radikal diskontinuierlich geschnittenes Werk

Diskussion
Im Dezember 2013 brach der Filmemacher Michael Glawogger mit dem Kameramann Attila Boa und Manuel Siebert, der den Ton angelte, zu einer ziellosen Reise auf, die ein Jahr lang währen sollte, aber im April 2014 urplötzlich endete, als der Filmemacher in Liberia an Malaria erkrankte und starb. Sein ambitioniertes Filmprojekt, aus vorangehenden Erfahrungen im Feld des Dokumentarischen geboren, hat Glawogger wie folgt beschrieben: „Dieser Film soll ein Bild der Welt entstehen lassen, wie es nur gemacht werden kann, wenn man keinem Thema nachgeht, keine Wertung sucht und kein Ziel verfolgt. Wenn man sich von nichts treiben lässt außer der eigenen Neugier und Intuition.“ Glawogger und sein Team reisten von Kroatien Richtung Süden, über Italien nach Marokko und dann durch Nord- und Westafrika bis nach Liberia. Die Reise begleitete der Filmemacher mit Tagebüchern und Notizen, die zeitgleich in mehreren Tageszeitungen online veröffentlicht wurden. Als Glawogger überraschend starb, waren 70 Stunden Material abgedreht, es existierten Absprachen zur Filmmusik von Wolfgang Mitterer und erste konzeptuelle Überlegungen mit Glawoggers vertrauter Cutterin Monika Willi, die es ihr erlaubten, eine Version des Materials postum zu montieren. In früheren Filmen wie „Megacities“ (fd 33 726), „Workingman’s Death“ (fd 37 581) oder „Whores’ Glory“ (fd 40 674) hatte sich Glawogger schon als Abenteurer und Reisender mit einem Gespür für außergewöhnliche Lebens- und Arbeitswelten präsentiert, dessen neugierige Bilder immer wieder und stets aufs Neue überraschten und verblüfften. Insofern war der Versuch ziemlich konsequent, sich jenseits von Thesen und Konzepten auf die Suche nach Bildern zu machen und sich ganz auf das eigene Gespür und Temperament zu verlassen, um unverbrauchte Bilder der Welt einzufangen. Der Begriff für diesen im Grund paradoxen dokumentarischen Ansatz lautet „Serendipität“, also zufällige Beobachtung von etwas nicht Gesuchtem, das etwas Überraschendes zu erkennen gibt. Insofern ist das Projekt und das gefilmte Material eigentlich eine Art potenzierter Autorenfilm, der etwas von Momenten erzählt, in denen Glawogger, Boa und Siebert die Welt erfuhren oder nach einer Erfahrung der Welt suchten. Mit welcher Sicherheit kann ein Autor ausschließen, dass sich diese Momente nicht doch zu einem Thema, einer Weltanschauung fügen? Wie lange können Bilder und Töne eingefangen werden, ohne insgeheim doch einem Ziel zu folgen? Während Glawoggers Aufzeichnungen die Reiseroute chronologisch dokumentierten, ist die Chronologie im Film aufgehoben. Der Film springt zwischen den Ländern und Kontinenten und hält sich konsequenterweise auch nicht damit auf, die Drehorte zu indizieren. So sieht man Bilder von Gewalt und Arbeit, Menschen und Tiere, die sich auf Müllhalden miteinander um Verwertbares ringen, Esel, die, angeleint auf einem staubigen Platz, miteinander kämpfen, Spuren des Balkankrieges in Geisterstädten, junge Männer, die sich an einer Wasserstelle prügeln, Kinder, die in die Kamera blicken, ein Mann, der eine Ziege füttert, ein Fußballspiel von Behinderten, Baumfällarbeiten, das Nachtleben in Freetown, Tänzer und manche mehr. Man kann durchaus ein Interesse an bestimmten Motiven wie Körpern oder Arbeit erkennen, zumal überliefert ist, dass Glawogger selbst von einem nomadischen Film träumte, der im besten Falle „nie zur Ruhe“ komme. Wobei auch ihm klar gewesen ist, dass der Film Ruhemomente brauchen würde, um Bewegung erfahrbar zu machen. Ist nun schon das erklärte Konzept des Films hermeneutisch paradox, so ertappt man sich als Zuschauer immer wieder dabei, unwillkürlich „sinnvolle“ Beziehungen herstellen zu wollen. Entweder innerhalb des filmischen Diskurses (der ja keiner sein will) von „Untitled“ oder im Rückgriff auf die früheren Glawogger-Filme mit ihrem Gespür für das Schöne im Hässlichen oder die Würde der Entrechteten. Fügt man solche Gedanken wie zu einem Text, verfehlt man die Qualitäten des Films, weil man doch wieder verkürzt und pointiert. Hinzu kommt die postume Montage des Materials durch Monika Willi, die jetzt als Co-Regisseurin firmiert. Sie hat zwar viele Jahre mit Glawogger eng zusammengearbeitet, montiert das Material jetzt aber ohne die Gegenrede des Filmemachers. Den Bildern ist eine Art „freier“ Off-Kommentar beigegeben, der sich aus den Reisenotizen Glawoggers speist und von Birgit Minichmayr eingesprochen wurde. Willi selbst hat von der „Gefahr“ einer „Doppel- oder Dreifachaufladung“ des Materials gesprochen, zumal gegen Ende des Films, als Glawogger eine Woche vor seinem Tod in einer Rimbaud-Reminiszenz von seiner Sehnsucht nach dem Verschwinden spricht. Das erscheint aus heutiger Sicht mysteriös, ist aber Produkt einer Ex-Post-Montage unterschiedlichen Materials. So erzählt dieser in jeder Hinsicht großartige Film nicht nur von der Welt in Bildern, wie man sie viel zu selten sieht, sondern auch von der permanenten Suche oder auch nur der Sehnsucht nach Sinnstiftendem. Selbst in Momenten des provozierten Zufalls.
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