Dokumentarfilm | Frankreich/Deutschland/Belgien 2016 | 139 Minuten

Regie: Jonathan Littell

Seit 1989 hat der Krieg der religiös-politischen Rebellenbewegung „Lord’s Resistance Army“ (LRA) gegen die Regierung von Uganda Tausende von Opfern gefordert. Der Schriftsteller Jonathan Littell zeichnet in seinem Dokumentarfilm die Schicksale dreier ehemaliger Kindersoldaten nach, indem er sie Momente ihres Lebens nachstellen lässt. Sie werden dabei weder entschuldigt noch verteufelt, vielmehr erscheinen die nunmehr jungen Erwachsenen als Opfer, Täter, Zeugen und Anklagende zugleich. Dem sorgfältig gestalteten Film gelingt damit eine packende Analyse der Genese von Massenmorden und des Traumas einer Gesellschaft. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
WRONG ELEMENTS
Produktionsland
Frankreich/Deutschland/Belgien
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
Veilleur de Nuit/Zero One Film/Wrong Men North/Canal+/BR/arte/RTBF/Voo/Be TV/Le Pacte
Regie
Jonathan Littell
Buch
Jonathan Littell
Kamera
Johann Feindt · Joachim Philippe
Schnitt
Marie-Hélène Dozo
Länge
139 Minuten
Kinostart
27.04.2017
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Erschütternde Doku über einstige Kindersoldaten, Regiedebüt des französischen Schriftstellers Jonathan Littell

Diskussion
Sie sind Opfer, Täter, Zeugen und Anklagende zugleich: Kindersoldaten in einem fernen, vergessenen Krieg. Der französische Schriftsteller Jonathan Littell („Die Wohlgesinnten“) erkundet in seinem Regiedebüt die zynischen Mechanismen einer religiös-mythisch legitimierten Armee. 1989 gründet Joseph Kony in Uganda die „Lord’s Resistance Army“ (LRA), eine Rebellenbewegung, die den Kampf gegen den bis heute amtierenden Präsidenten Yoweri Museveni beginnt. Die „Widerstandsbewegung des Herrn“, wie man den Namen der Terrorgruppe übersetzen könnte, kämpft im Norden Ugandas für einen esoterisch-christlichen Gottesstaat, dessen Grundlage die Zehn Gebote sein sollen. Wesentliches Rekrutierungsgebiet ist das Land der Ancholi, denen Kony selbst angehört. Ihm geht es nicht nur um den Sieg, sondern auch um die Selbstreinigung – in Weiterentwicklung eines zentralen Gedankens von Alice Lakwena, Anführerin des ersten mystischen Aufstands in Uganda im Oktober 1987: „Krieg soll alle falschen Elemente in der Gesellschaft bereinigen.“ Damit werden nicht nur der Krieg, sondern auch Gewalt und Tod als Zweck geheiligt. Womit alle Mittel Recht werden: In den 25 Jahren seit ihrer Gründung hat die LRA etwa 60.000 Teenager entführt, Jugendliche zwischen 12 und 13 Jahren, und zum Kampf für den Gottesstaat gezwungen. Kaum die Hälfte hat die Kämpfe überlebt. Kony ist bis heute nicht gefasst, Überbleibsel der LRA terrorisieren noch immer die Bevölkerung im sudanesisch-ugandischen Grenzgebiet. Littell nähert sich dem Thema behutsam, ihm geht es nicht um schockierende Bilder, sondern um die Psychologie hinter dem Netzwerk des Todes. Die Kamera taucht ein in die Schönheit des Dschungels, faszinierende Kulisse für einen vergessenen Krieg, der Hunderttausenden das Leben und Millionen den Frieden kostete. Littell findet drei Beteiligte, die als Heranwachsende verschleppt wurden: Geofrey wurde mit 13 entführt und entkam der LRA mit 16, seine Schwester Nighty war ebenfalls 13, als sie verschleppt wurde, und wurde, wie fast alle entführten Mädchen, zu Geschlechtsverkehr gezwungen. Zusammen mit Mike, der gleichfalls mehrere Jahre unfreiwillig in der LRA diente, stellen sie die Szenen nach, die ihr Leben veränderten. Littell lässt sie noch einmal das Geschehene durchlaufen: ihre Entführung, der Zwang, Gegner und unschuldige Zivilisten zu erschießen, die Plünderungen und Massaker in den Camps, die doch als sichere Auffanglager für die Zivilbevölkerung dienen sollten. Manchmal brechen Geofrey, der heute als Motorradtaxi-Fahrer arbeitet, und Mike während der nachgestellten Szenen in Heiterkeit aus. Übersprungshandlungen, die das Erlebte erträglicher machen. Man muss es sich immer ins Gedächtnis rufen: Die beiden waren, als sie zu Mördern gemacht wurden, 13, 14 Jahre alt. Kaum zu erahnen, was diese so lebenslustig erscheinenden jungen Erwachsenen verdrängen. Auch der Zuschauer muss ab und an erinnert werden, um welches Ausmaß von Gewalt es hier geht. „Ich hörte Schläge und dachte, sie schlagen Holz“, wird eine Frau zitiert, deren Familie zum Opfer von LRA-Kindersoldaten geworden ist, „es waren die Köpfe meiner Kinder.“ Zwischen die Szenen sind Archivaufnahmen geschnitten: Teenager, die auf andere Menschen schießen, ein Junge mit abgetrenntem Arm, Opfer in Blutlachen. Geofrey kommt an den Ort zurück, wo das Camp stand, das von seiner Einheit überfallen wurde. „Ich kann nicht einfach weiterleben, ohne zurückzukommen“, sagt er. Er und seine Kameraden sind Täter und Opfer, zum Töten gezwungen, im Krieg aufgewachsen und selbst vom Tod bedroht, hätten sie zu flüchten gewagt. Daher vermeidet Littell, jede Schuldzuweisung, protokolliert die Genese von Massenmorden, die von marodierenden Banden im Namen religiös-mythischer Heilsversprechen begangen worden sind – Kony wird noch heute von vielen als „Prophet“ bezeichnet. Littell ist wichtig festzuhalten, wann und wo genau welches Massaker verübt wurde: jeder Krieg, jeder Mord, jeder Massenmord ein historischer Einzelfall. Nicht aber die psychologische Struktur, die dahinter steht: Schlussfolgerungen zu den Abhängigkeitsverhältnissen, wie sie der „Islamische Staat“ seinen jugendlichen Kämpfern abfordert, sind spekulativ, drängen sich aber auf. Auch hier werden die Taten junger Leute von einer Heilsideologie gerechtfertigt. Geschichte wiederholt sich nicht, aber es sind immer wieder ähnliche Geschichten, die sich wiederholen. Die von Geofrey, Mike und Nighty gehören dazu, genauso wie die ihrer Opfer. Und die Traumata danach, das lebenslange Gefühl, von den Geistern der Getöteten besessen zu sein. „Cen“ heißt das in Uganda und meint die posttraumatische Belastungsstörung eines ganzen Landes.
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