Drama | Schweiz/Frankreich 2016 | 91 Minuten

Regie: Tobias Nölle

Die Routine eines eigenbrötlerischen Privatdetektivs gerät durcheinander, als dessen Vater stirbt und zudem auch noch eine unbekannte Frau in den Besitz seiner Kamera gerät, sodass er selbst zum Beobachteten wird. Die Telefongespräche mit der Fremden eröffnen ihm eine neue Welt, in der er sich zu verlieren droht. Das eigenwillige Spielfilmdebüt lebt von der Kraft der Imagination, der virtuosen Montage sowie vom hinreißenden Spiel des Hauptdarstellers. Das Thema der virtuellen Realität ist latent ständig anwesend, wird aber ausschließlich durch Rückgriffe auf das (ästhetische) Register des analogen Zeitalters verhandelt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
ALOYS
Produktionsland
Schweiz/Frankreich
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
Hugofilm/Petit Film/SRF/SRG SSR/arte
Regie
Tobias Nölle
Buch
Tobias Nölle
Kamera
Simon Guy Fässler
Musik
Tom Huber · Beat Jegen
Schnitt
Tobias Nölle · Myriam Flury
Darsteller
Georg Friedrich (Aloys Adorn) · Tilde von Overbeck (Vera) · Kamil Krejci (Herr Schoch) · Yufei Lee (Yen Lee) · Koi Lee (Herr Lee)
Länge
91 Minuten
Kinostart
24.11.2016
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Verleih DVD
good!movies
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Debütfilm von Tobias Nölle als Hommage an die Imagination

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„Meide Spiegel, Schattenwürfe und Echos. Sei leiser als der Wind.“ Die 10 Schritte zur Unsichtbarkeit hat der Privatdetektiv Aloys Adorn besser gelernt, als ihm gut tut. Seine überwältigend graue Ausstrahlung lässt sich ungefähr mit der eines Aktenschranks vergleichen. Und auch aus seiner Sprache ist jeder Rest von Leben gewichen: „Wir interagieren nicht mit Zielpersonen.“ Mit dem „Ich“ hat Aloys ein ziemliches Problem. Auch als sein Vater, die eine Hälfte der Symbiose „Adorn & Sohn“ die Welt verlassen hat, bleibt er beim „wir“. Oder aber er flüchtet sich ins noch verstellter klingende Generalpronomen: „Man dankt.“ Der Schweizer Filmemacher Tobias Nölle stellt in seinem Langfilmdebüt dieses Gespenst von einem Mann in ein Setting, das es im Kino überproportional zu sehen gibt: Aloys lebt in einem tristen Wohnsilo an der Peripherie irgendeiner Stadt, auch hier herrscht überwältigende Grauheit. Die Wohnung selbst erinnert eher an einen Unterschlupf als an einen Privatraum: die zugezogenen Vorhänge lassen die Konturen verschwimmen, zurück bleibt ein undefinierter Mischmasch aus Dunkelheit und Muffigkeit. Alles ist von vorgestern: die Schrankwand, das Sofa, Aloys’ grauer Anorak, der blaue Wollpulli, geradezu historisch (prä-digital) wirkt das technische Equipment. Aloys, der Berufsvoyeur, der auch nach Dienstschluss nicht aufhören kann, die Videobänder mit den Aufzeichnungen fremder Leben zu sichten – er selbst hat ja keines – wird eines Tages selbst zum Beobachteten. Eine unbekannte Frau ist in den Besitz seiner Kamera gekommen, konfrontiert ihn mit Aufnahmen seiner selbst (sehr lynchesk), aber auch mit anderen Dingen wie dem Magnesiummangel seiner Katze und seinen traurigen Augen. Als Aloys mit seiner gewohnt technokratischen Art nicht weiterkommt – „Retournieren Sie unsere Gegenstände“ –, lässt er sich auf das Angebot der Frau ein, mit ihm „telefonzuwandern“. Dabei imaginieren sich beide im Gespräch in andere Räume und Situationen. Aloys beginnt allmählich, sich – vorerst nur in der Imagination – aus seiner Isolation zu lösen, er geht in den Wald, wird empfänglich für das Sensuelle und öffnet sich sogar dem Sozialen: Er gibt eine Party in seiner Wohnung, bei der sogar ausgelassen getanzt wird. Die unbekannte Frau stellt sich bald als eine Nachbarin heraus, Vera, auch sie eine beschädigte Figur, die nach einem Suizidversuch im Krankenhaus liegt. Inzwischen aber hat die projizierte Vera Aloys’ Leben ganz besetzt. Ob Aloys jemals zum „echten“ Leben und den Menschen durchdringen wird, bleibt offen. Dass der geheimnisvollen Vera die Aufgabe der Lebensspenderin des einsamen Mannes zukommt, mag auf den ersten Blick vielleicht abgegriffen wirken, doch die Ebenen des Films sind zu verschachtelt und referenziell, um sich in einer so simplen These zu erschöpfen. Im Grunde projiziert der Regisseur das Thema der virtuellen Realität und den damit verbundenen Verlust von „Leben“ in das analoge Zeitalter zurück. Obwohl der Film in der Schweizer Gegenwart spielt, hat er den stark patinierten Touch des längst Vergangenen – die im ästhetischen Konservatismus gefangene Hauptfigur steht in der Nachfolge eines Harry Caul, dem Abhörspezialisten aus Francis Ford Coppolas „Der Dialog“ (1973, (fd 19 008)). Aloys braucht keine Technologie, um ins Virtuelle einzutreten. „Unsere Stimmen generieren ein Bild. Unsere Worte setzen es in Bewegung“, sagt Vera einmal, und es klingt wie ein Beschwörungsritual. Im Film bedarf es nur eines einzigen Schnittes, um von der grauen Wohnung in den Wald zu gelangen und eines weiteren Schnitts, um Vera neben sich auf dem Sofa vorzufinden. Dieser Rückgriff auf die elementaren Mittel der Montage ist beeindruckend, und Nölle setzt sie so virtuos wie ökonomisch ein. Mitunter wirkt der Film zwar etwas überkontrolliert und angestrengt, doch das „mind game“ gewinnt nie die Oberhand, sondern dient stets dem Figurenporträt. Dass „Aloys“ als solches so gut und unsentimental funktioniert, liegt nicht zuletzt an dem hinreißenden Spiel von Georg Friedrich, der die verliebte Ermittlerfigur bei aller Verschrobenheit niemals der Karikatur preisgibt.

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