Drama | Deutschland 2014 | 82 Minuten

Regie: Ester Amrami

Eine Frau Mitte 30 (ver-)zweifelt an ihrem Studium sowie am Leben in Berlin. Spontan entschließt sie sich, zu ihrer Familie nach Israel zurückzukehren, verfällt dort aber alsbald in alte Verhaltensmuster und benimmt sich wie ein aufmüpfiger Teenager. Mit leichter Hand rührt der psychologisch differenzierte Debütfilm an verschiedene Schichten und Geschichten, ohne die Erzählung einer verunsicherten Identität aus dem Blick zu verlieren. Der gut gespielte Ensemblefilm handelt von Kommunikation und Sprache, familiären Empfindlichkeiten und der Frage, an wie vielen Orten man zu Hause sein kann, ohne sich darüber selbst zu verlieren. - Ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
ANYWHERE ELSE
Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2014
Produktionsfirma
dirk manthey film/Hochschue für Film und Fernsehen (HFF) "Konrad Wolff"/RBB/MDR
Regie
Ester Amrami
Buch
Momme Peters · Ester Amrami
Kamera
Johannes Praus
Musik
Fabrizio Tentoni
Schnitt
Osnat Michaeli
Darsteller
Neta Riskin (Noa) · Golo Euler (Jörg) · Hana Laslo (Mutter Rachel) · Hana Rieber (Henja) · Dovaleh Reiser (Yossi Guttermann)
Länge
82 Minuten
Kinostart
29.01.2015
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Heimkino

Verleih DVD
SchwarzWeiss (16:9, 1.78:1, DD5.1 dt.)
DVD kaufen

Diskussion
Der Kontrast könnte nicht größer sein: Tief hängt der Nebel über dem Berliner S-Bahn-Delta. Im Winter ist hier alles grau. In Israel hingegen scheint die Sonne durch Blätter und Palmwedel; hell gleißt der Asphalt. „Anderswo“ sind beide Orte für Noa. Um diese junge Frau herum erzählt Ester Amrami ihren ersten Spielfilm, der sich fast wie ein verzögertes Coming-of-Age-Szenario anlässt. In Berlin ereignen sich Verzögerungen ziemlich leicht, eingebettet in die „digitale Bohème“, die einfach nicht älter werden will und schon gar nicht erwachsen. Man studiert lange, hangelt sich von Stipendium zu Stipendium, die Mieten sind bezahlbar und mit Nebenjob könnte das ewig so weitergehen. Noa putzt das Treppenhaus in dem Altbau, in dem sie gemeinsam mit ihrem Freund Jörg, einem Musiker, wohnt. Sie nimmt regelmäßig Psychopharmaka. Jörg schlägt vor, sie solle doch endlich ihre Arbeit abschließen, dann müsste sie auch das Zeug nicht mehr schlucken. Noa beschäftigt sich mit einem Wörterbuch für unübersetzbare Wörter und filmt in Berlin lebende Menschen aus aller Welt, die diese Wörter für die Kamera erklären. Die Filme im Film tauchen in „Anderswo“ immer wieder auf, strukturieren den Film und weisen über ihn hinaus. Als ihr das Stipendium mit der Begründung abgelehnt wird, dass es sich da wohl eher um Kunst denn um Wissenschaft handle, und sich ihr Freund Jörg fast gleichzeitig für ein Engagement in Stuttgart bewirbt, fliegt Noa kurzerhand nach Israel zurück. Im Schoß ihrer Familie lassen auf Eis gelegte Konflikte nicht lange auf sich warten, was die hadernde Mittdreißigerin endgültig wieder zum pubertierenden, rebellierenden Kind werden lässt. Berlin ist die Exposition, der Hauptteil des Films spielt in Noas Heimat. Das deutsche Wort „Heimat“ ist auch so ein unübersetzbares Wort, es wird in keinem filmischen Zwischenspiel erklärt – und doch permanent und unausgesprochen verhandelt. Überhaupt rührt die Regisseurin und Autorin mit leichter Hand an viele verschiedene Schichten und Geschichten, ohne dass die Erzählung darüber zerfasern würde. Es geht um Israel und Deutschland: Noas Mutter spricht mit ihrer in Czernowitz geborenen Mutter jiddisch – das versucht sie dann auch mit Jörg, der Noa nachreist. Vor allem anhand Jörgs Person, seiner Arglosigkeit, mit der er Anspielungen und Rituale durchstolpert, zeigt Amrami, wie sich die Spannungen des Holocaust bis in die dritte Generation fortgesetzt haben, mit welchen Fragen ein junger Deutscher in Israel konfrontiert ist. Mal erzählt Noas Bruder, der verzweifelt seinen Militärdienst ableistet, einen Witz, in dem Bastian Schweinsteigers Großvater als KZ-Aufseher auftaucht, mal wird das Feld ohne Worte ausgelotet: Noas Vater führt Jörg durch den Betonbunker, den er im sonnigen Garten in die Erde gegraben hat. Eine ganz ähnliche Geschichte erzählte Julia von Heinz in „Hannas Reise“ (fd 42 146), nur mit umgekehrten Vorzeichen, aus deutscher Perspektive – Hanna ist bei Amrami gewissermaßen die Nebenfigur Jörg. In „Anderswo“ geht es auch um Sprache, insbesondere in der Beziehung zwischen Noa und Jörg, um Kommunikation, Missverständnisse und Empfindlichkeiten in der Familie. „Anderswo“ ist in dieser Hinsicht ein mit bemerkenswert psychologischem Geschick inszenierter, fast dokumentarisch gespielter Ensemblefilm. Noa ist temperamentvoll, impulsiv und handelt oft unüberlegt, während Jörg ein eher ruhiger, vorausschauender Charakter ist – das Gleiche gilt für Noas Mutter und Vater. Die Probleme mit ihrer Schwester, der Neid und die Wut, werden nur angedeutet, erschließen sich aber trotzdem. Irgendwann bricht es in einem Wutausbruch aus Noa heraus, dass ihre Arbeit absolut sinnlos sei. Nichts lasse sich übersetzen, nicht Bett, nicht Liebe, nicht Stuhl. Anderswo ist überall: Berlin, Israel, Czernowitz. Als sie ihre Großmutter fragt, wie viele Sprachen sie spricht und wo ihre Heimat sei, antwortet diese: „Hauptsache, alle sind gesund.“
Kommentar verfassen

Kommentieren