Chamissos Schatten - Eine Reise zur Beringsee in drei Kapiteln

Dokumentarfilm | Deutschland/Österreich/Schweiz 2016 | 746 (201/201/162/182) Minuten

Regie: Ulrike Ottinger

Angeregt von den historischen Berichten berühmter Forscher, insbesondere den Tagebüchern von Adelbert von Chamisso, begibt sich die Dokumentaristin Ulrike Ottinger auf eine mehrere tausend Kilometer lange, radikal entschleunigte Tour. Ihr zwölfstündiger ethnografischer Reisefilm verbindet historische Texte und persönliche Reisenotizen, alte bildliche Darstellungen und aktuelle Begegnungen mit Menschen unterschiedlicher Ethnien und Kulturen. Im Nebeneinander von Vergangenheit und Gegenwart entsteht ein Bild dieser Region, in dem die kolonialen Überformungen ebenso sichtbar werden wie der Bestand an indigener Tradition und überliefertem Wissen. (Der Film kam ins Kino in vier Teilen: "Alaska und die aleutischen Inseln", "Tschukotka und die Wrangelinsel - Teil 1", "Tschukotka und die Wrangelinsel - Teil 2", "Kamtschatka und die Beringinsel".) - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
CHAMISSOS SCHATTEN - EINE REISE ZUR BERINGSEE IN DREI KAPITELN
Produktionsland
Deutschland/Österreich/Schweiz
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
Ulrike Ottinger Filmprod./ZDF/3sat/rbb
Regie
Ulrike Ottinger
Buch
Ulrike Ottinger
Kamera
Ulrike Ottinger
Schnitt
Bettina Blickwede
Länge
746 (201
201
162
182) Minuten
Kinostart
26.05.2016
Fsk
ab 0; f (Teil 1&4)
ab 6; f (Teil 2)
ab 12; f (Teil 3)
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
IMDb | TMDB

Heimkino

Die Extras umfassen u.a. ein 20-seitiges Booklet. DVD auch als limitierte Sonderedition erhältlich, inkl. Ausstellungskatalog und Künstlerbuch "Weltreise", von Ulrike Ottinger entworfen und handsigniert.

Verleih DVD
Real Fiction (16:9, 1.78:1, DD5.1 rus. & eng. & dt.)
DVD kaufen

Materialreicher ethnografischer Zwölfstunden-Reisefilm in drei Teilen entlang der Beringsee von Ulrike Ottinger

Diskussion
„Chamissos Schatten“ markiert schon im Titel eine Distanz zu jedweden Ursprungs- und Pioniergedanken. So sehr der Film ein Werk des Schauens, Beobachtens, Staunens und Entdeckens ist, so sehr folgt er auch vergangenen – und dabei sprachlich vermittelten – Fährten und Blicken. Auf den Spuren berühmter Forscher wie Alexander von Humboldt, Georg Wilhelm Steller, Reinhold und Georg Forster und insbesondere Adelbert von Chamisso bereiste die Dokumentaristin Ulrike Ottinger drei Monate lang die entlegene Region im Beringmeer, wo der eurasische und der amerikanische Kontinent aufeinandertreffen: Alaska, die äußerste Ostgrenze Russlands im Nordpazifik entlang der Halbinseln Kamtschatka und Tschukotka, die Wrangel-Insel, die Bering-Insel und die Aleuten, eine 2000 km lange Inselkette am Südrand des nordpazifischen Beringmeeres. Der titelgebende Schatten, der seinen Ursprung in Chamissos „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ hat, ein Märchen über einen Mann, der seinen Schatten an den Teufel verkauft und darüber ins Unglück gerät, verweist dabei auf mehr als die historische Spur und damit verbunden, auf das sichtbare Bekenntnis zu einer europäischen Perspektivierung. Denn nicht zuletzt werden in dem Begriff auch die Belastungen kolonialer Herrschaft und globaler Interessen angesprochen, denen die in der Region ansässigen Ethnien und Kulturen in der Vergangenheit ausgesetzt waren oder noch immer sind. Nun ist „Chamissos Schatten“ aber vor allem ein mit offenen Augen schauender ethnografischer Reisefilm und keine postkoloniale Anklage. Das Schauen ist dabei ebenso wichtig wie das Zuhören. Zum einen gilt es all den Naturgeräuschen, dem Wind und Wasser, den Vögeln, aber auch den Motorengeräuschen der Schiffe zu lauschen; zum anderen dem Text. Man merkt Ottinger sofort ihr lebendiges Interesse für die Reiseberichte an, die sehr schön und nie zu tragend aus dem Off gelesen werden: für ihren mal dramatischen (bei Steller), mal lebendig-empathischen Tonfall (bei Chamisso), für die detaillierten und äußerst bildhaften Beschreibungen von Pflanzen und ihren vielfältigen Verwertungsmöglichkeiten, von Hüttenbauweisen und wetterfester Oberbekleidung, vom Treiben der Seeotter, vom Geschmack von Seelöwenfleisch im Vergleich zu Rentierfleisch. Ottinger stellt die historischen Texte neben ihr eigenes, selbst vorgelesenes Reisetagebuch; sie flicht ihren märchenhaften Text „Das Seeottermädchen“ ein, montiert dazu alte Schwarz-weiß-Fotografien, historische bildliche Darstellungen und Aufnahmen ethnologischer Artefakte. Und sie befragt die in den entlegenen Regionen lebenden Menschen, darunter Eskimos und Chukchen, zeigt sie beim Fischen und Kochen am Meer. Text und Bild sind dabei jeweils autonome Einheiten, die sich mal treffen, ergänzen und kontrastieren, um dann wieder auseinanderzudriften. Ganz zu Anfang zeigen Kupferstiche aus „Schlemihl“ den Titelhelden mit seinen Siebenmeilenstiefeln, die er von seinem letzten Geld kaufte. Mit Spazierstock und Wandersack schreitet er mit riesigen Schritten über das Meer. Ottingers Tempo ist ein anderes. Es ist das gemächlich vor sich hinschippernde Tempo der Seereise, das sich nicht nur in der insgesamt 12-stündigen Laufzeit niederschlägt (aufgeteilt in 4 Teile bzw. 3 Kapitel), sondern sein Echo auch in den wiederkehrenden langsamen Kameraschwenks findet. Der Blick ist zuallererst auch ein Seeblick. Konsequent hält der Film den Kontakt zum Wasser, man sieht die meist hügeligen, mitunter wunderschön schroffen Landschaften träge vorbeiziehen; wenn Ottinger an Land geht, hält sie sich bevorzugt an den Küstenstreifen auf. Ganz selten sieht man die Menschen in ihren Häusern. Auf einer Insel findet Ottinger eine verlassene meteorologische Station vor, kaputt, verwittert und geisterhaft. Ausführlich beschreibt sie das Innere des Hauses – hier noch ein bezogenes Bett etc. –, doch die Kamera bleibt konsequent draußen und bestaunt stattdessen, wie sich die Natur hier ihren Lebensraum zurückholt. Immer wieder begegnet den Reisenden ein Szenario wie aus einem dystopischen Film: verlassene Fabriken, Hütten, die mit der Erde zunehmend verschmelzen, verrostete Fässer, Metallschrott. Ein wesentlicher Aspekt in den Begegnungen ist das Verhältnis von Tradition und Traditionsverlust, historischen Kontinuitäten und gewaltsamen Brüchen – verursacht etwa durch das gewaltsame Vorgehen der russischen Pelzhändler und später durch die Zwangsumsiedelungen des Sowjet-Regimes. Einen großen Raum nehmen Fischfang und Meeresjagd ein. Ottinger geht es dabei immer um einen ganzheitlichen Blick auf subsistenzwirtschaftliche Existenzen. So dokumentiert sie die Rentier- und Seehundjagd praktisch in Echtzeit und wendet ihren Blick auch nicht ab, sobald der Fang gemacht ist. Alles gehört dazu: das langwierige Ausnehmen des Tiers, die kleinen Opfer, die an die Natur zurückgegeben werden, das Portionieren des Fleisches für die Gemeinschaft. Erstaunlich resistent gegen die koloniale Expansionspolitik haben sich manche Traditionen und Kulturtechniken gehalten. Traditionelle Tänze, in denen Tierrollen eingenommen werden oder die den Walfang in ihr Bewegungsrepertoire aufnehmen, etwa das kollektive Ziehen eines Taus, sind wiederholt Gegenstand ausführlicher Betrachtung. Es gibt den Tanz der Rentierkälbchen, den Tanz der Walrosse oder auch den Tanz der zwei Raben. „Chamissos Schatten“ zeigt auch die industrielle Arbeit in einer Fischfabrik, die an Flughäfen und anderen öffentlichen Orten aufgestellten, nach Attraktionswerten heischenden ausgestopften Kodiak-Bären. Nicht unerwähnt bleiben auch die plumpen Pläne eines Tourismusunternehmers, eine Bering-Reise auf einem speziellen Dampfer anzubieten. Doch es zieht Ottinger schnell wieder in die entlegenen Gegenden, dort, wo Rentiere noch mit dem Lasso gejagt werden, Vögel die letzten Reste von den am Strand liegenden Walgerippen picken und es noch ein Wissen gibt über die Zubereitung von Eskimo-Eis mit roten Beeren. Doch was sich hier auf den ersten Blick vielleicht als „ursprünglich“, gar unberührt darstellt, trägt ebenso deutliche Spuren der Globalisierung, sichtbar etwa in der allgegenwärtigen Outdoor- und Camouflage-Kleidung. „Chamissos Schatten“ ist sicherlich kein Film, der die globalen Zusammenhänge als ein Geflecht anschaulich macht; Ottinger stellt die Dinge eher unkommentiert nebeneinander – als Kontraste und Widersprüche. In Anadyr, der Hauptstadt von Chukotka, findet man sich plötzlich in einem Fischsupermarkt wieder: weiße Kacheln, vakuumverpackter Fisch in Vitrinen, Verkäuferinnen mit Plastikhandschuhen und Käppi. Nachdem man buchstäblich Stunden mit den Menschen draußen verbracht hat, durch Wind und Wetter gereist ist, kommt einem das wie eine Science-Fiction-Szene vor.
Kommentar verfassen

Kommentieren