Die Frau mit der Kamera - Porträt der Fotografin Abisag Tüllmann

Dokumentarfilm | Deutschland 2015 | 96 Minuten

Regie: Claudia von Alemann

Die Filmemacherin Claudia von Alemann rekapituliert ihre langjährige Freundschaft und künstlerische Zusammenarbeit mit der Fotografin Abisag Tüllmann (1935-1996), deren Werke in renommierten Magazinen und Tageszeitungen erschienen. Die behutsame Annäherung reicht weit über den Rahmen einer persönlichen Biografie hinaus und weitet sich zur Chronik der Bundesrepublik Deutschland und ihrer gesellschaftlichen Umbrüche der 1960er- bis 1990er-Jahre. Tüllmanns Fotografien werden in dem ebenso dichten wie präzisen Dokumentarfilm zu essayistischen Passagen gruppiert und erhalten einen faszinierenden autonomen Raum. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
Alemann Filmprod.
Regie
Claudia von Alemann
Buch
Claudia von Alemann
Kamera
Rolf Coulanges · Verena Vargas Koch · Peter Zach
Musik
José Luis de Delás · Bernd Keul
Schnitt
Angelika Levi · Oscar Loeser
Länge
96 Minuten
Kinostart
23.06.2016
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Porträt der Fotografin Abisag Tüllmann (1935-1996), die mit ihren Aufnahmen den gesellschaftlichen Umbruch in Westdeutschland ab den 1960er-Jahren festhielt.

Diskussion
Behutsam, fast zögernd, bewegt sich die Kamera durch die nun menschenleere Wohnung. Der Blick streift über Wände, Regale, Tische, über Zettelwirtschaften, Bücherstapel und unzählige Fotokartons. Wer hier wohnte, so viel steht fest, hat zwischen Arbeit und Leben keine saubere Trennlinie gezogen. Drei Tage nach dem Tod der Fotografin Abisag Tüllmann im Jahr 1996 filmte die Regisseurin Claudia von Alemann in ihrer Wohnung. Die beiden Frauen verband drei Jahrzehnte lang Freundschaft wie Zusammenarbeit. Tüllmann war mit der Kamera dabei, als von Alemann 1970 ihren Film „Kathleen und Eldridge Cleaver“ in Algier drehte. 1973 begleitete sie das von Alemann und Helke Sander organisierte „Erste Internationale Frauenfilm-Seminar“ im Berliner Kino Arsenal mit der Kamera. Als Standfotografin war sie außerdem an von Alemanns erstem Spielfilm „Die Reise nach Lyon“ (fd 22 980) beteiligt. Abisag Tüllmann, 1935 unter dem bürgerlichen Namen Ursula Eva Tüllmann im westfälischen Hagen mit jüdischem Hintergrund geboren, war eng mit den Protagonistinnen des Neuen Deutschen Films verbunden. Deren bewegte Bilder fließen in Ausschnitten immer wieder in den Film „Die Frau mit der Kamera“ ein und treten mit den Fotografien Tüllmanns in Dialog. In Sanders „Die allseitig reduzierte Persönlichkeit“ (fd 20 775) sieht man Tüllmann sogar in einer kleinen Rolle. „Die Frau mit der Kamera“ ist weit mehr als eine persönliche Biografie über eine der bedeutendsten Fotografinnen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die von ihren Freunden und Arbeitskolleginnen, darunter Barbara Klemm und Ellen Bailly, im Film immer wieder als warm, zurückhaltend, sensibel und besonnen beschrieben wird. Und als eine Frau, die im Sprechen ausgesprochen langsam und leise war, im Sehen aber wach und agil. Indem von Alemann Tüllmanns Fotografien, von denen mehr als 500 Schwarz-weiß-Fotografien zu sehen sind, zum Kern ihrer Dokumentation macht, wird „Die Frau mit der Kamera“ auch zu einer Chronik der Bundesrepublik und ihrer gesellschaftlichen Umbrüche von den 1960er- bis zu den 1990er-Jahren. Die in der Studentenbewegung aktive Tüllmann war mit der Kamera dabei, als Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe in Stuttgart beerdigt wurden. Sie fotografierte die Akteure der 68er-Bewegung wie Daniel Cohn-Bendit und Rudi Dutschke. Beim Frankfurter Häuserkampf war sie mit der Kamera mitten in der demonstrierenden Masse; doch ihr Blick verlor sich nie im Chaos, sondern blieb immer klar. Bei aller Empathie für ihr Sujet wahrte sie stets eine respektvolle Distanz; mit der gleichen zurückgenommenen Haltung dokumentierte sie Frankfurter Obdachlose in ihren improvisierten Behausungen und Bergleute in den südafrikanischen Minen. Auf eine Fürsprecherin der sozialen Bewegungen, der Entrechteten und Unbehausten lässt sich die Fotografin jedoch nicht reduzieren. Sie bekam die Träger der politischen und wirtschaftlichen Macht ebenso vor die Kamera wie die Protagonisten der Neuen Musik. Und auch als Theaterfotografin machte sie sich einen Namen. Tüllmanns Fotografien, die in Zeitungen und Magazinen wie „Der Spiegel“, „Die Zeit“ und der FAZ veröffentlicht wurden, sind in „Die Frau mit der Kamera“ nie nur Dokumente der Zeit oder Ausdruck eines gesellschaftlichen Engagements bzw. einer gewissen Umtriebigkeit. Von Alemann montiert sie zu essayistischen Passagen und unterlegt sie mit der Musik des Komponisten José Luis de Delás. Vor Tüllmanns Arbeiten hat die Regisseurin den größten Respekt: Kein Foto wird beschnitten oder durch Zooms künstlich dynamisiert. Ein Galerist, so erinnert sich die Freundin Ellen Bailly, nahm es da weniger genau. Für eine Ausstellung wagte er es, die Fotos so zu beschneiden, dass sie in seine Rahmen passten. Claudia von Alemann schafft mit ihrem Film hingegen einen Rahmen für das Werk von Abisag Tüllmann. Er passt, engt aber nicht ein.
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