Die Wildente (2015)

Drama | Australien 2015 | 96 Minuten

Regie: Simon Stone

Ein zynischer, sich schonungslos zur Wahrheit bekennender Unternehmersohn liebt es, reinen Tisch zu machen, offenbart seinem Freund die einstige Liebschaft seines Vaters zu dessen Ehefrau und gefährdet damit dessen bislang glückliche familiäre Beziehung. Eindrucksvolle, bravourös inszenierte und gespielte Neuverfilmung des Bühnendramas von Henrik Ibsen, die die Ortlosigkeit und die Reizüberflutung ihrer Figuren als aktuelle Zeiterscheinungen eines modernen Kapitalismus verdeutlicht. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
THE DAUGHTER
Produktionsland
Australien
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
Screen NSW/Wildflower Films
Regie
Simon Stone
Buch
Simon Stone
Kamera
Andrew Commis
Musik
Mark Bradshaw
Schnitt
Veronika Jenet
Darsteller
Geoffrey Rush (Henry) · Sam Neill (Walter) · Miranda Otto (Charlotte) · Anna Torv (Anna) · Paul Schneider (Christian)
Länge
96 Minuten
Kinostart
27.10.2016
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
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Eindrucksvolle Neuverfilmung des Bühnendramas von Henrik Ibsen

Diskussion
Christian ist ein Mann, der nicht erwachsen werden will. Wahrheit geht ihm nun mal über alles, und darum muss er sie schonungslos in die Welt hinausposaunen. Auch wenn es nur seine Wahrheit ist. Keinesfalls duldet sein moralischer Furor, dass sich seine Mitmenschen mit ihren kleinen wie großen Geheimnissen oder ihren manchmal gnädigen Lügen bequem eingerichtet haben. So soll denn auch Christians Freund Oliver unbedingt erfahren, dass dessen Ehefrau Charlotte eine Affäre mit Christians Vater hatte, dem Unternehmer Henry. Selbst um den Preis, dass er mit seiner unerbittlichen Wahrheitsliebe das Leben einer glücklichen Familie zerstört, weil damit zugleich die Beziehung seines Freundes zu dessen Tochter Hedvig auf dem Spiel steht. Der junge Australier Simon Stone hat Henrik Ibsens naturalistisches Drama „Die Wildente“ (1882-84), das er bereits vor drei Jahren in Wien auf die Bühne brachte, in die Gegenwart versetzt und überträgt meisterlich und konzentriert dessen kritische Absicht auf heutige Lebensbedingungen. Gleich zu Beginn erfährt man von der Schließung der Sägemühle, die im Besitz von Christians Vater ist und durch die sich Oliver gezwungen sieht, sich nach einer neuen Arbeit umzusehen. Und zwar im ganzen Land, wie der Film vor Augen führt, weil der Verlust des Arbeitsplatzes im Handwerk und im traditionellen Familienbetrieb die modernen Menschen zu Nomaden macht. Das gesellschaftliche Leben wird ausgedünnt, ebenso leidet die Bildung der Kinder, die mit ihren Eltern mitziehen müssen. Keine Wurzeln mehr zu schlagen, destabilisiert die sozialen Beziehungen, sodass der Einzelne immer mehr verstummt und nur noch wenig von sich preisgibt. Entweder weil er glaubt, sich nicht mitteilen zu müssen oder weil er die Reaktion des anderen, dessen Enttäuschung oder Verletzung, fürchtet. Intensive Gefühle werden nicht in der Beziehung erlebt, man verschafft sie sich in anderen Gefilden. In solche entdramatisierten Beziehungen und ihre Sprach- und Empfindungslosigkeit bringt der Unternehmersohn Oliver Bewegung, weshalb ihn sein Freund Christian als Lichtblick, dessen Frau Charlotte aber als Bedrohung erlebt. Auf der Hochzeitsfeier seines Vaters bringt er die erstarrten Verhältnisse zum Tanzen. Doch statt die Welt zum Besseren zu bekehren, setzt er das Werk seines ungeliebten Erzeugers fort. Simon Stone erzählt, wie Oliver im Banner des Moralismus einen gnadenlosen Kreuzzug führt, der der Logik des Kapitalismus folgt. Diese wiederum setzt auf „kreative Zerstörung“ im Sozialen, um dem Neuen einen Weg zu bereiten. So gesehen könnte man die erstarkten fundamentalen Bewegungen als Stütze des modernen Kapitalismus lesen, wobei der Film die Beweggründe für Christians Destruktionswunsch offenlegt und die Figur stärker psychologisch als Ibsens Drama motiviert. Letztlich ist der idealistische Unternehmersohn ein in negative Gefühle verstricktes Wrack, das mit den Schatten seiner Vergangenheit kämpft. Den alkoholabhängigen Sohn treiben Schuldgefühle, weil er den Selbstmord seiner Mutter nicht zu verhindern wusste; zudem beneidet er Hedvig um das gute Verhältnis zu ihrem Vater, der mit Stolz von seiner Tochter spricht; und schließlich rächt er sich ersatzweise an Hedvigs Mutter, weil er seine eigene Frau nicht halten konnte, die ihn mit einem anderen betrogen hat. Anschaulich setzt Stone die Ortlosigkeit und die Reizüberflutung seiner Figuren ins Bild. Die agile Kamera nimmt deren heftige Gefühlsbewegungen auf und durchmisst mit ihnen den Raum. Schnell strömt die Zeit dahin, nur bei höchster innerer Erregung erscheint mittels Zeitlupe die Zeit in der Außenwelt gedehnt und wird als intensives Erlebnis der Figur markiert. Nichts ist von Dauer, nirgendwo ist eine Figur ungestört, wie die Montage deutlich macht, weil sich Sinneseindrücke oder Erlebnisse überlagern, sich die Stimmen der anderen jederzeit in das eigene Leben hineindrängen können. Kann es da überhaupt noch einen Weg geben, der in die Freiheit führt?
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