Dokumentarfilm | Schweiz/Deutschland/Indien/USA 2014 | 113 Minuten

Regie: Marcel Gisler

Hochkarätiger Dokumentarfilm über den Schweizer Florian Burkhardt und seine multiplen Persönlichkeiten: Als Snowboarder, Verleger, Lehrer, verhinderter Hollywood-Star, Top-Model, Grafikdesigner, Komponist, Produzent und Event-Manager entwarf der unter Angststörungen leidende Avantgardist sich stets aufs Neue, ohne den Defiziten seiner Kindheit zu entkommen. Der Film zeichnet die für Borderliner typische Abfolge von Erfolg und Scheitern nach, wobei hinter dem Familienroman viele weitere Ebenen aufscheinen, die die Häutungen des Protagonisten als Symptome ihrer Zeit erkennen lassen. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
ELECTROBOY
Produktionsland
Schweiz/Deutschland/Indien/USA
Produktionsjahr
2014
Produktionsfirma
Bernard Lang AG/Schweizer Radio und Fernsehen
Regie
Marcel Gisler
Buch
Marcel Gisler
Kamera
Peter Indergand
Musik
Claudio Balduín Gianfreda
Schnitt
Thomas Bachmann
Länge
113 Minuten
Kinostart
26.11.2015
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Herausragender Dokumentarfilm über einen Schweizer mit multiplen Persönlichkeiten

Diskussion
„Electroboy“ sollte eigentlich als Double-Feature mit „Frank“ (fd 43 263) von Lenny Abrahamson laufen. Als Dokument zum Spielfilm. Der Entertainer Electroboy ist eine der Persönlichkeiten von Florian Burkhardt. Andere sind Lehrer, verhinderter Hollywood-Star, Topmodel und PC-Grafiker. Er macht Dinge, die andere nicht machen, weil sie von sich nicht so überzeugt sind. Dann hat er wieder phobische Phasen, wo bereits das Verlassen der Wohnung zum Problem wird. Eine Abfolge von Karriere und Scheitern, die für Borderliner typisch ist. Das Besondere an diesem Dokumentarfilm aber ist der Familienroman. Die Puzzlesteine ergeben eine klassische Überfürsorge durch die Mutter, die vom Unfalltod eines ihrer Kinder traumatisiert ist. Der ältere Bruder ist ein bodenständiger Schweizer, der versucht, die Dinge pragmatisch zu nehmen. Der katholische Vater, der den Unfall verursacht hat, kultiviert einen Schuldkomplex. Die Ehe ist kaputt. Gegen Ende des Films verlässt die Mutter den Vater. Der Sohn ist während seines Lehramtsstudiums fremdgesteuert und bricht dann plötzlich aus, um nach Hollywood zu gehen. Ein schwuler Studienkollege finanziert ihm den Traum. Eine schöne Einstellung zeigt ihn vor Madame Tussauds’ Wachsfigurenkabinett. Da selbst in Hollywood kein Platz für geborene Filmstars ist, wird er Topmodel. Er entdeckt, dass er schwul ist, und bricht die Karriere ab, um mit einem Bauernbuben zu leben. Dann, in den 1990er-Jahren, kommt der PC. Ein Medium, das wie für Burkhardt geschaffen ist. Er macht Grafik für große Kunden, bis es ihm zu langweilig wird. Er produziert etwas ganz Neues, content. „Click for emotions“, heißt eines der Produkte. Dabei ist der porträtierte 40-Jährige ein extrem unterkühlter Typ mit Berührungsängsten. Sein Schwyzerdütsch wirkt wie eine Beruhigungspille. Den Kunden sagt Burkhardt knallhart: „Wenn du das nicht verstehst, bist du zu alt.“ Er bekennt, dass er von dieser virtuellen Welt geträumt habe, erkennt aber auch rückblickend, wie sich die Welt auf Bildschirm und Internet reduziert. Diese Passage ist vielleicht die brisanteste am Film „Electroboy“, der an Burkhardts Sonderfall Dinge demonstriert, die uns alle betreffen. Die Wirklichkeit holt ihn dann mit Panik ein. Ich ist ein Anderer, und wer geboren wird, ist schuldig. Mühselig muss er wieder lernen, eine Tür zu öffnen oder Licht zu ertragen. Wieder rettet Burkhardt sich mit einem Ausbruch ins Extrem. Er erfindet sich neu über die Organisation seiner eigenen Geburtstagsparty. Er organisiert Events, Clubs, arrangiert Musik und arbeitet mit visuellem Overkill. Doch irgendwann bricht er auch das alles ab, wandert nach Dortmund aus, wo alles billiger ist und die Wege kurz sind. Statt sich auf der Straße zu bewegen, läuft er jetzt wie ein Hamster im Laufrad. Und dann erregt die Mutter einen Skandal: Sie weigert sich, ein Schweizer Luxushotel zu verlassen. Die ganze Familie muss anrücken. Wie das Mikrodrama endet, wissen wir nicht. Wahrscheinlich nie, Familienromane sind das Grundmodell der Fortsetzungsgeschichte. Am Schluss steht Florian vor dem Grab des verstorbenen Bruders. Verstörend ist, wie in diesem Familienroman viele andere Familienromane durchschimmern. Das ist vielleicht auch das Geheimnis des beachtlichen Festivalerfolgs dieser Dokumentation. Der konservative Vater erzählt zwar, dass Kinder eine gewisse Strenge brauchen, aber im Grunde ist das Nachzüglerkind das klassische Einzelkind unserer Kleinfamilien. Das Problem ist längst nicht mehr autoritäre Erziehung, sondern die Fokussierung auf das Kind, das gleichzeitig in der Entwicklung seiner Selbstständigkeit verwahrlost. Es ist eingeschlossen im Wohlstand, leidet an einem mangelnden Bezug zur Wirklichkeit schon vor deren Virtualisierung und wird nicht durch physische Gewalt, sondern durch Liebesentzug fremdgesteuert. Der Vater ahnt, sicherlich zu spät, in seiner Anamnese das Klaustrophobe der Situation, wenn er das Märchen von Jorinde und Joringel herbeizitiert. Immer wieder versucht Florian Burkhardt die Beziehung zu seinen Eltern zu erklären. Er spricht von einer Schizophrenie zwischen seinem Ich und den Eltern, meint, er wäre inkompatibel zu ihnen. In einem klaren Moment am Ende des Films erklärt die Mutter, dass sie die Nase voll habe vom Heile-Welt-Spiel: „Wir sind doch nicht im Kino.“
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