Dokumentarfilm | Schweiz/Deutschland 2016 | 100 Minuten

Regie: Jan Gassmann

Vier europäische Paare zwischen 20 und 30, nicht ungebildet, aber ohne Beruf, auf dem Sprung, aber im Grunde ohne echte Chancen: Siobhan und Terry machen Straßenmusik in Dublin, Veronika aus Tallinn hofft, dass sich Harri besser mit ihrem Sohn versteht, Penny will Thessaloniki und ihren Freund Nico verlassen, um in Italien zu arbeiten, Juan und Caro aus Sevilla sind frisch verliebt. Ihre Gespräche drehen sich um persönliche Befindlichkeiten, Politisches taucht allenfalls am Rand auf. Party und Drogen sollen von den wenig rosigen Aussichten ablenken. Eine sprunghaft-assoziative, fast essayistische Bestandsaufnahme, wie nebenbei eingefangen, aber dokumentarisch sorgfältig gefertigt und durchdacht. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
EUROPE, SHE LOVES
Produktionsland
Schweiz/Deutschland
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
2:1 Film/Lüthje Schneider Hörl Film
Regie
Jan Gassmann
Buch
Jan Gassmann
Kamera
Ramon Giger
Musik
Library Tapes
Schnitt
Miriam Märk · Roland von Tessin · Jacques L'Amour
Länge
100 Minuten
Kinostart
29.09.2016
Fsk
ab 16
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Lighthouse (16:9, 1.85:1, DD5.1 engl. & span. & gri. & estn.)
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Doku über vier europäische Paare zwischen 20 und 30 und ihre wenig rosigen Lebensperspektiven.

Diskussion
Jan Gassmann ist einer der zehn jungen Schweizer Filmemacher, die in dem dystopischen Gemeinschaftsdrama „Heimatland“ (2015, (fd 44 040)) die gängige Sicht auf die Schweiz und deren Position in Europa kritisch hinterfragten. Nach dem dokumentarischen Porträt seines sterbenden Freundes „Chrigu“ (2007, (fd 38 351)) und dem Spielfilmdebüt „Off Beat“ (2011), das herzhaft ungeschliffen von der fatalen Beziehung zweier Brüder erzählte, stellt Gassmann mit „Europe, She Loves“ wieder einen Dokumentarfilm vor. In dem es um Europa geht. Um die – nicht nur politische – Stimmung knapp zwei Jahrzehnte nach dem Lissaboner Grundlagenvertrag. Abgehandelt wird das am Beispiel von vier Paaren: Veronika und Harri in Tallinn, Siobhan und Terry in Dublin, Caro und Juan in Sevilla, Penny und Nico in Thessaloniki. Sie sind alle zwischen 20 und 30 Jahre alt, junge Erwachsene, die auf dem Höhepunkt ihrer körperlichen und geistigen Kräfte die Weichen für die Zukunft stellen und ihren Platz in der Gesellschaft finden sollten. Doch abgesehen vom Griechen Nico, der sich ab und zu zum politischen Geschehen äußert und mit seiner Freundin Penny schon mal in eine Demonstration gerät, sind die Protagonisten am aktuellen politischen Geschehen kaum interessiert. Mehr beschäftigen sie ihre persönlichen Befindlichkeiten. Und natürlich ihre Beziehung. Ihr derzeitiger Lebenspartner, die gemeinsame Zukunft. Sonderlich rosig sieht es nirgendwo aus. Die Protagonisten sind nicht ungebildet, haben studiert, wollen sich aber weiter ausbilden lassen, ins Ausland zu gehen, Karriere machen. Allerdings gehören die Protagonisten, die leicht fiktionalisierte „Figuren“ ihrer selbst spielen, weder der Upper-Class an noch zu dem in einigermaßen gesicherten Verhältnissen lebenden Mittelstand, sondern sind Teil einer „lost generation“, die kurz vor oder nach der Jahrtausendwende auf die Welt kam und von der Finanz- und Wirtschaftskrise der letzten Jahre voll getroffen wurde: „You call us lost generation?“, heißt es irgendwann, und weiter: „Yes, we might be lost – and naked too, because there’s nothing to lose. We don’t pretend. We are. We fight, dance, cook, make love“ („Ja, wir sind vielleicht verloren – und nackt dazu, weil wir nichts mehr zu verlieren haben. Wir machen uns nichts vor. Wir existieren. Wir kämpfen, tanzen, kochen und lieben…“). Sie bringen sich, sofern sie überhaupt eine Anstellung oder einen Job haben und Geld verdienen, mit Tätigkeiten über die Runden, welche die Bezeichnung „Beruf“ kaum verdienen: als Handlanger in der Gastronomie, als Pizza-Bote oder Nachtwächter. Veronika, die mit Harri und zwei kleinen Kindern in einer wilden Patchwork-Familie lebt, tritt nachts als Go-go-Tänzerin auf. Und Siobhan und Terry, die in ihrer ersten Verliebtheit vor Jahren in die Drogenabhängigkeit rutschten und nun wieder drogenfrei zu leben versuchen, machen ab und an Musik auf den Straßen von Dublin. Es sind wehmütige, (irische) Sehnsucht-Songs, die Siobhan zur Gitarre singt. Sie prägen zusammen mit dem Original-Score von Library Tapes, der die Bilder sorgfältig auf einen in karge Weiten führenden Klangteppich bettet, die Stimmung des Films. Nicht was man wie tut, ist wichtig, sondern dass man lebt, in den vier sehr unterschiedlichen Städten Europas, aber auch in dessen landschaftlichen Weiten, die Gassmann in minutenlangen Fahrten, orchestriert von Musik und Radionachrichten, immer wieder ins Bild rückt. „Europe, she loves“ hat etwas Sprunghaft-Assoziatives, Essayistisches. Doch was scheinbar zufällig oder wie nebenbei erzählt scheint und den Eindruck des Unprätentiös-Flüchtigen vermittelt, ist äußerst sorgfältig gefertigt und durchdacht. In der Beobachtung der Paare, ihrer Diskussionen und sexuellen Interaktionen gewinnt die Inszenierung oft eine geradezu berückend echt wirkende Intimität, die von großem Vertrauen zwischen den Protagonisten und Gassmann zeugt. Auf diese Weise spürt der Film in seiner Bestandsaufnahme kleiner, privater Befindlichkeiten der großen europäischen Idee nach. Das ist kein einfaches Unterfangen, aber eines, das Jan Gassmann faszinierend gut geglückt ist.
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