Drama | Tunesien/Belgien/Frankreich/Katar/Vereinigte Arabische Emirate 2016 | 93 Minuten

Regie: Mohamed Ben Attia

Ein schüchterner 25-jähriger Tunesier, der noch ganz unter dem Einfluss seiner Mutter steht, wird kurz vor der arrangierten Hochzeit von seinem Arbeitgeber in einen Ferienort abkommandiert, wo er sich in eine selbstbewusste Hotelangestellte verliebt und zum ersten Mal für sich selbst einstehen muss. Sorgfältig inszeniertes, präzise beobachtendes Regiedebüt, das durch vielschichtige Figuren für sich einnimmt. Unaufdringlich werden die Protagonisten in Beziehung zur gesellschaftlichen Stimmung fünf Jahre nach der Revolution gesetzt, wobei der Film trotz resignativer Schübe Anlass zur Hoffnung gibt. (Titel Schweiz: "Hedi") - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
INHEBBEK HEDI
Produktionsland
Tunesien/Belgien/Frankreich/Katar/Vereinigte Arabische Emirate
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
Nomadis Images/Les Films du Fleuve/Tanit Films
Regie
Mohamed Ben Attia
Buch
Mohamed Ben Attia
Kamera
Frédéric Noirhomme
Musik
Omar Aloulou
Schnitt
Azza Chaabouni · Ghalya Lacroix · Hafedh Laaridhi
Darsteller
Majd Mastoura (Hedi) · Rym Ben Messaoud (Rim) · Sabah Bouzouita (Baya) · Hakim Boumessoudi (Ahmed) · Omnia Ben Ghali (Khedija)
Länge
93 Minuten
Kinostart
22.09.2016
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama | Komödie
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IMDb | TMDB

Eine hoffnungsvolle Liebe, fünf Jahre nach der tunesischen Revolution

Diskussion
Fünf Jahre nach der tunesischen Revolution, die 2010 den „Arabischen Frühling“ einläutete, ist die Aufbruchsstimmung verflogen, und auch das Katzenjammer-Stadium ist bereits passé. Das nordafrikanische Land ist zum Alltag zurückgekehrt, auch wenn die ungewisse Zukunft und die gegenwärtige Rezession ihren Tribut fordern. In der Arbeitsstelle des 25-jährigen Hedi, einer Niederlassung von Peugeot, will man von Resignation aber nichts hören: „Sicher, unser Land steckt in der Krise. Aber sollen wir deshalb einfach rumsitzen?“, schwört der Chef seine Mitarbeiter ein und fordert zugleich mehr Einsatz für die Firma. Sie sollen von Tür zu Tür gehen und Autoverträge an Land ziehen, der lustlos wirkende Hedi vorneweg. Es ist eine Bewährungsprobe, hinter der private Wünsche zurückstehen müssen, sogar Hedis Hochzeitsreise. „Das sind die Verkaufstage“, heißt es bedauernd. Freinehmen könne er erst in ein paar Monaten. Für die Hauptfigur im Regiedebüt des Tunesiers Mohamed Ben Attia ist es normal, dermaßen gegängelt zu werden. Andere treffen die Entscheidungen über sein Leben, das hat Hedi seit Langem verinnerlicht. Seinen Job verdankt er seinem älteren Bruder und seiner Mutter, die auch bei seiner zukünftigen Ehe alle Fäden gesponnen hat. Bei einem Treffen mit der Familie seiner künftigen Braut Khedija sind er und sie aufs stille Schauen und den verstohlenen Wechsel solidarischer Blicke begrenzt, während Hedis Mutter das Reden bestreitet. Dass Hedi nicht nur ein bisschen vor sich hinkritzelt, wie seine Mutter meint, sondern am liebsten professionell Comics zeichnen würde, wenn es nach ihm ginge, kann er seiner allein auf Ehe und Kinder hoffenden Braut aber nicht erzählen. So bleiben seine surrealistisch anmutenden Zeichnungen ein heimlicher Akt des Widerstands, an dem er auch weiterarbeitet, als er in den Touristenort Mahdia abkommandiert wird. Statt zu arbeiten, verbringt er die Tage am Hotelstrand, versucht zu entspannen, zeichnet und verfolgt abends das Unterhaltungsprogramm für die Gäste. Doch dann ereignet sich etwas Unerwartetes in Hedis scheinbar so vorherbestimmtem Dasein: Eine der Animateurinnen gefällt ihm so sehr, dass der junge Mann seine Schüchternheit überwindet und sie anspricht. Die ungezwungen wirkende Frau namens Rim geht freundlich auf ihn ein, erwidert bald auch seine Zuneigung, und nach einem nächtlichen Bad im Meer landen die beiden im Bett. Das könnte der Beginn einer Beziehung auf Augenhöhe sein, wenn Hedi nun nicht ein doppeltes akutes Problem hätte: Rim ahnt nichts von seinen Hochzeitsplänen, und Mutter und Bruder sollen um keinen Preis erfahren, dass er sich auf Abwege begeben hat. Ben Attia inszeniert das scheue Werben des Mannes und sein wachsendes Selbstbewusstsein gegen die Bevormundung mit viel Sorgfalt und psychologischer Genauigkeit. „Hedis Hochzeit“ profitiert zudem von den höchst präzise agierenden Schauspieldebütanten Majd Mastoura, der für seinen sensiblen Auftritt bei der „Berlinale“ 2016 mit einem „Silbernen Bären“ ausgezeichnet wurde, und Rym Ben Messaoud. Hedi und Rim verkörpern musterhaft die Hoffnungen nach dem revolutionären Aufbruch, ohne deshalb zu reinen Symbolträgern zu werden. So vollzieht sich Hedis Emanzipation weder geradlinig noch unproblematisch, und auch die Kamera von Frédéric Noirhomme kommt den beiden zwar oft sehr nahe, ohne sie dabei jedoch zu verklären. Wie in den Filmen von Jean-Pierre & Luc Dardenne, die „Hedis Hochzeit“ mitproduziert haben, oder in Abdellatif Kechiches „Couscous mit Fisch“ (fd 38 872), dessen Co-Autorin und Cutterin Ghalia Lacroix hier am Schnitt beteiligt war, zeigt sich auch Ben Attia bei seinem Debütfilm einem sanft beobachtenden, undidaktischen Stil verpflichtet. Seine prägnanten Charakterisierungen fallen ebenso bemerkenswert aus wie der Einbezug der aktuellen Stimmung im Lande: Einmal erinnert sich Hedi an die kurzfristige Euphorie in den Tagen des friedlichen Umsturzes – und an die Enttäuschung, als sie wieder abebbte, während Rim unmittelbar von der Terrorgefahr betroffen ist, da in den Hotels die Touristen ausbleiben. Es liegt etwas Resignatives in der Luft. Eines ist allerdings klar: Niemand wird Hedis und Rims Generation weismachen können, dass die Dinge in Tunesien nicht auch ganz anders sein könnten. Auch das gelingt „Hedis Hochzeit“ ganz wunderbar: ein bei aller Skepsis doch sehr optimistischer Film zu sein.
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