Manche hatten Krokodile

Dokumentarfilm | Deutschland 2015 | 91 Minuten

Regie: Christian Hornung

Beobachtungen unter Menschen, die im Hamburger Stadtteil St. Pauli unweit der Reeperbahn wohnen. Eine altgewordene Stripperin, eine Bardame und ein Seemann erzählen, wie sie nach Hamburg kamen, ihren Alltag bewältigen und sich von der Nachbarschaft angenommen fühlen. Tagsüber sitzen sie in ihren Stammkneipen, die mit ihren Sparclubs, bei denen man sein Erspartes treuhänderisch dem Wirt anvertraut und am Ende des Jahres mit Zinsen zurückbekommt, ein verbindendes Element darstellen. Eine aufschlussreiche Dokumentation weitab bekannter Kiez-Klischees, die interessante Biografien auffächert und mit der Idee des Sparclubs einen unterschwellig kritischen Kommentar gegenüber Banken transportiert. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
Tamtam Film/NDR
Regie
Christian Hornung
Buch
Christian Hornung
Kamera
Martin Neumeyer
Musik
Eike Swoboda · Nadja Rüdebusch
Schnitt
Christian Hornung · Maria Hemmleb
Länge
91 Minuten
Kinostart
10.11.2016
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Beobachtung unter Menschen rund um die Reeperbahn

Diskussion
Der Blechkasten, der neben der Theke hängt, sieht wie ein übergroßer Briefkasten aus. Doch statt eines breiten Schlitzes gibt es viele kleine, bestimmt über 20, die über- und nebeneinander angeordnet sind. Hier können Kneipenbesucher jede Woche ihr Geld in das für sie reservierte Fach werfen, Münzen, die der Spielautomat gerade ausgeworfen hat, Scheine, die nicht für Bier oder Schnaps draufgehen sollen – so, als wolle der Kneipenbesucher sein Bares vor sich selbst bewahren. Der Wirt legt die Notgroschen an, am Ende des Jahres, bei der Weihnachtsfeier, wird mit Zinsen zurückgezahlt. Kneipensparen oder auch Sparclub nennt man diese Tradition, die es dem Vernehmen nach nur in Hamburg gibt. Unterschwellig, ohne dass es direkt ausgesprochen würde, geht es hier auch um Misstrauen gegenüber den Banken und Sparkassen mit ihrem Spardiktat – besser, man verlässt sich in Geldangelegenheiten auf seinesgleichen. Die Kneipen auf St. Pauli, nicht unweit der Reeperbahn, heißen „Hong Kong“, „Kaffeepause“ oder „Utspann“, ihre Sparkästen sind so etwas wie das verbindende Element für jene Menschen, die Filmemacher Christian Hornung in seinem Dokumentarfilm vorstellt. Ein halbes Dutzend hat Hornung in ihren Stammkneipen besucht, darunter eine altgewordene Stripperin, eine Bardame und einen Seemann. Er lässt sie erzählen: wie sie nach Hamburg kamen, auf der Suche nach Arbeit oder einem neuen Leben, wie sie hängenblieben, ihren Alltag bewältigen, wie sehr sie sich hier in der Nachbarschaft angenommen und aufgehoben fühlen. Von Zuhälterkriegen mit den „Österreichern“ ist die Rede, von Saufgelagen, von Schießereien, bei denen man sich besser unter den Tisch duckte. Auch der Filmtitel erklärt sich in einer dieser Erzählungen, von denen man nicht immer weiß, ob sie nicht auch Seemannsgarn sind. Denn die See spielt als Sehnsuchtsort in diesen Geschichten immer eine große Rolle. In den Erzählungen wird vor allem das alte St. Pauli wiedererweckt. Es geht um seine Mythen und Legenden, um den Hafen, der damals noch genug Arbeit bot, um Striptease-Bars, die Exotik versprachen, um Toleranz, die anderes, etwa die Transvestiten in der Talstraße, wie selbstverständlich zuließ. Die Menschen berichten aber auch, wie sich St. Pauli verändert. Die Mieten steigen, die Alten können nicht mehr von ihrer Rente leben, sie sind auf Nebenjobs angewiesen, am Wochenende fallen die partywütigen Vorstädter wie Hornissen über die Reeperbahn her. Hornung hört seinen Protagonisten aufmerksam zu; selten einmal unterbricht er mit einer Frage. Die Kamera schaut einfach zu, bleibt fast starr. Erst wenn sie eine Person verfolgt, aus der Wohnung heraus durch die Haustür auf die Straße bis zur Eckkneipe oder auch mal zum Friseur, setzt sie sich in Bewegung. Die baulichen Veränderungen im Stadtteil macht Hornung an Momentaufnahmen deutlich, die er zu verschiedenen Zeitpunkten am selben Ort festgehalten hat. Dabei fungieren große Lastwagen, die das Bild einnehmen, als Wischblende. Kaum sind sie vorbeigefahren, ist in der Großen Freiheit aus dem berühmten „Safari“-Sexclub eine Kneipe mit Außenbedienung geworden, vor der sich junge Menschen drängen. Ein wenig Wehmut mischt sich in diese Bilder, doch der Wechsel gehört dazu. Hornung hat einen Mikrokosmos erkundet, der sich selbst genügt, der in Erinnerungen schwelgt und trotzdem der Zukunft gelassen entgegensieht. Das Leben geht weiter.
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