Mandıra Filozofu Istanbul

Komödie | Türkei 2014 | 109 Minuten

Regie: Müfit Can Saçıntı

Ein bescheidener Dorfphilosoph reist trotz seiner Abneigung gegen Großstädte nach Istanbul, um seinen erkrankten Vater zu besuchen. In der Metropole stößt er auf soziale Ungerechtigkeit, Profitgier und andere Auswüchse der modernen kapitalistischen Welt und macht sich mit seiner hintersinnig-gemütlichen Art daran, sie wortreich zu bekämpfen. Eine mit viel Wortwitz inszenierte sozialkritische Komödie, die wettbewerbliche Dogmen und blinden Fortschrittsglauben pointiert durch den Kakao zieht. Der intellektuelle Spaßfaktor wird durch einige wüste Klamauk-Szenen getrübt. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
MANDIRA FILOZOFU ISTANBUL
Produktionsland
Türkei
Produktionsjahr
2014
Produktionsfirma
Mint Prod.
Regie
Müfit Can Saçıntı
Buch
Birol Güven
Kamera
Selçuk Ekmekçiler
Musik
Aydın Sarman · Burcu Güven
Schnitt
Hasan Kalender
Darsteller
Müfit Can Saçıntı (Mustafali) · Rasim Öztekin · Ayda Aksel · Eser Eyüboğlu · Begüm Öner
Länge
109 Minuten
Kinostart
19.03.2015
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Komödie
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Hintersinnige türkische Komödie um einen Dorfphilosophen im intellektuellen Kulturkampf.

Diskussion
„Ihr habt kein Kind bekommen, sondern ein Projekt“, wirft Mustafali, den es aus seinem beschaulichen Heimatdorf nach Istanbul verschlägt, seinem in den Wirren der Globalisierung gescheiterten Freund Hilmi vor. Und trifft damit, irgendwo zwischen marxistischer Lehre und gesundem Menschenverstand, den Nagel auf den Kopf: ein gleichzeitig burlesk und thesenreich inszeniertes Plädoyer für Entschleunigung, kurze Wege und überschaubare Ziele. Mustafali, mindestens 1,90 Meter groß, um die 55, untersetzt, Karl-Marx-Frisur, gemütlicher Blick und Alter Ego des Regisseurs Müfit Can Saҫıntı, der seine Hauptperson denn auch selber spielt, kommt aus dem kleinen Ägäis-Dorf Cökertme-Gökova. Hier ist nicht nur das Wasser azurblau und das Leben übersichtlich, hier legte sich der belesene, aber in beruflichen Dingen bewusst bescheidene Mustafali im ersten „Mandıra Filozofu“ (2013) auch noch erfolgreich mit einem ehrgeizigen Immobilienmakler an, dessen Projekte das Ökosystem in der ganzen Region bedrohten. Nun geht es nach Istanbul. Schuld daran ist der Vater, der vor einigen Jahren mit einer Engländerin in die Metropole durchgebrannt ist, wo er jetzt, tödlich erkrankt, auf der Intensivstation liegt. Mustafali drängt seine Mutter, gemeinsam mit ihm nach Istanbul zu fahren, um sich vom Vater und Ehemann zu verabschieden. Doch die hysterische Mama gibt die auf ewig beleidigte Leberwurst und versucht zunächst, sich der Reise zu verweigern. Was dem Film eine überlange Einstiegsszene voll wüstem Klamauk beschert: Mutter will hier aus dem fahrenden Kleinwagen springen, bleibt mit ihrer ganzen Körperfülle dort im Seitenfenster stecken und liefert sich, gemeinsam mit dem ebenfalls mitfahrenden Makler aus „Mandıra Filozofu“, Teil 1, obszöne Wortgefechte. Zum Weggucken. Doch in Istanbul kriegt der Film plötzlich die Kurve. Angesichts des sich offensichtlich rapide wandelnden Stadtbilds und des Schicksals seines einstigen Schulfreundes Hilmi, der als Vertreter von seiner Firma entlassen wurde, weil er den immer höher gesteckten Renditezielen nicht mehr entsprechen konnte, kommt Mustafali ins Grübeln. Und überzeugt mit seinen Worten: zunächst Hilmi, der mit seiner Familie in einer Gated Community lebt und die Kinder auf die Privatschule schickt. Unter dem Foucault’schen Motto „Der Kapitalismus gibt Komfort und nimmt die Freiheit“ argumentiert der Philosoph vom Lande, dass immer höhere Ziele auch größere Zwänge schaffen: „In der Türkei werden 20 Millionen Kinder geboren, die alle Ärzte werden sollen. Doch wo sollen die Patienten herkommen, wenn alle Ärzte sind?“ Mit solcherlei Aphorismen steigt Mustafali später auch noch in wortgewaltige Battles mit einem übereifrigen Personalberater, einem skrupellosen Vorstandsvorsitzenden und dem verlorenen Sohn eines benachbarten Pärchens aus Cökertme-Gökova ein, der in der urbanen Welt sein Glück fand, indem er sich mit Rasta-Locken, Hipster-Bart und einer ansehnlichen Heavy Metal-Sammlung Anerkennung bei den Frauen suchte. Und dabei seine dörfliche Herkunft verleugnete: „Wo die Elite dieses Landes nach Eiern vom Dorf sucht, gibst du nicht zu, dass du vom Dorf kommst.“ Einer von vielen Volltreffern, die nicht nur auf Privatschulen, Eheberater, Personalprofiler und Verdrängungswettbewerber abzielen, sondern auch auf die kapitalismusaffinen Konkurrenzstrukturen des so genannten Underground. „Wegen eurer Ziele habt ihr das Ziel verfehlt“, ist Mustafalis alias Müfit Can Saҫıntıs genauso simple wie treffende Kernprognose zur allgemeinen Unzufriedenheit, für die er auch gleich ein Heilmittel bereithält: Verzicht. Und so entwickelt sich die anfängliche Klamotte zum wortwitzigen Thesenfilm, einem Plädoyer für Entschleunigung und das kreative Potential der Faulheit. Schließlich haben, während die Fleißigen mit überhöhten Renditezielen ihrer eigenen Kundschaft den Gewinn und damit die Kaufkraft abgraben, die Faulen den Fortschritt gebracht: „Der, der das Rad erfunden hat, wollte nicht laufen.“ „Mandıra Filozofu İstanbul“ zeigt, wie man mit einfachen, aber treffend gewählten Worten das wettbewerbsgesellschaftliche Dogma des Höher-Weiter-Schneller pointiert durch den Kakao ziehen und damit widerlegen kann, ohne den Zeigefinger heben zu müssen. Dass Haartracht und Bart des Philosophen an Karl Marx erinnern, dürfte kein Zufall sein. Auch nicht, dass er aus dem Dorf kommt: hier sei, so hört man hinter all der Kapitalismuskritik durch, das soziale Miteinander noch in Ordnung. Stimmt zwar nicht ganz wegen des dort anfallenden Konformitätsdrucks, ist in dieser Mixtur aber nachvollziehbar: wenn der Mensch an der Komplexität des Globalismus zu scheitern droht, liegt das Lokale als Alternative auf der Hand. Mustafalis nicht einfach zu übersetzender Wortwitz wurde vom deutschen Verleih in den Untertiteln nicht fehlerfrei, aber treffend wiedergegeben – ein Schwank mit intellektuellem Spaßfaktor und nachdenklichem Schluss: am Ende wird Mustafalis an Kehlkopfkrebs erkrankter Vater aus dem Krankenhaus entlassen, hat aber seine Stimme verloren. Für Wortarbeiter wie Mustafali eigentlich ein Alptraum. Optimismus ist, wenn er dann auf der Rückfahrt seinen Vater dennoch auffordert, sein Lieblingslied aus Kindertagen zu singen.
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