Nicht alles schlucken

Dokumentarfilm | Deutschland 2015 | 86 Minuten

Regie: Jana Kalms

In einem ganz in monochromem Grau gehaltenen Raum geben Psychiatrie-Patienten, Angehörige sowie Ärzte und Pfleger ihre jeweiligen Positionen zum Leben mit Psychosen und dem Einsatz von Psychopharmaka preis. Ohne je die reine Gesprächssituation zu verlassen, reflektiert der engagierte Film kritisch den Zustand der Psychiatrien in Deutschland sowie die Verabreichung von Psychopharmaka mit ihren Nebenwirkungen und Spätfolgen. Zugleich wirft er einen erhellenden Blick auf eine Gesellschaft, die sich mit Normabweichungen schwer tut, und ermuntert zu einem flexibleren Umgang mit Betroffenen. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
credo:film
Regie
Jana Kalms · Piet Stolz · Sebastian Winkels
Buch
Jana Kalms · Piet Stolz
Kamera
Sebastian Winkels
Schnitt
Sebastian Winkels · Frederik Bösing
Länge
86 Minuten
Kinostart
28.05.2015
Fsk
ab 6 (DVD)
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Vom Leben mit Psychosen und Psychopharmaka

Diskussion
Ein Kreis mit schmucklosen Stühlen, ein weiß gestrichener Raum. In eine maximal reduzierte, neutrale Situation führen Jana Kalms, Piet Stolz und Sebastian Winkels den Zuschauer in ihrem gemeinsamen Film „Nicht alles schlucken“. Sie versetzen dabei den Zuschauer nicht nur in das offenkundig gruppentherapeutische Setting, sie setzen ihn tatsächlich mit in diesen Kreis, auf Augenhöhe – Sebastian Winkels hat sich mit seiner Kamera und Knieschonern im Zentrum des Kreises bewegt, um diesen Effekt zu erzeugen. Drei verschiedene Positionen sind versammelt: Ärzte und Pfleger, Patienten und Angehörige. „Nicht alles Schlucken“ ist bereits das zweite gemeinsame Projekt von Jana Kalms und Piet Stolz nach „Raum 4070“ (fd 38 042), in dem es um das Leben mit Psychosen ging. Ebenso wie in „Nicht alles schlucken“ war die Grundlage der Trialog – anders etwa als in Gamma Baks thematisch verwandtem Film „Schnupfen im Kopf“ (fd 40 136), in dem die Filmemacherin selbst ihr Leben mit Psychosen tagebuchartig aufrollte. „Nicht alles schlucken“ ist gleichzeitig therapeutisches Projekt, systemkritisches Dokument mit einer klaren Haltung, die sich schon im Titel artikuliert, und künstlerischer Dokumentarfilm. Piet Stolz ist Neurologe und Psychiater, Jana Kalms ist Filmemacherin und Angehörige eines langjährig Psychatrie-Erfahrenen – so bezeichnen sich die Patienten selbst, auch um das Stigma der Erkrankung, der Normabweichung zu vermeiden. Der entscheidende Satz in diesem Zusammenhang fällt ziemlich zu Beginn; er kommt von der Mutter eines Sohnes, der immer wieder unter Psychosen leidet. Von Beruf ist sie Kinderärztin, Medikamente galten ihr bislang als Mittel zum Zweck – den Kranken sollten sie von seiner Krankheit heilen. Sie erzählt von einem Neurologen, bei dem sie mit ihrem Sohn Adam war und den sie gefragt hat: „Wann wird Adam wieder gesund?“ Der Arzt habe sie dann gebeten, Gesundheit zu definieren, und sie antwortete wie gelernt: „Gesundheit ist die Abwesenheit von Krankheit.“ Adam sei nicht krank, beschied ihr der Arzt: „Adam ist einfach Adam.“ Sehr bewusst wird einem bei diesem Film, dass die Gesellschaft entscheidet, was normal ist und was nicht; wann jemand, wann sein Verhalten nicht mehr tragbar ist für die Gemeinschaft. Eine Tochter berichtet von dem Moment, als sie sich für die Einlieferung ihrer Mutter in die Psychiatrie entschieden hat: Sie hatte das Gefühl, dass diese ihr Baby bedroht. Dann kommt die Verwaltung aus der Psychiatrie zu Wort: Es gibt viel zu wenig Personal, um so auf den Einzelnen einzugehen, wie es erforderlich wäre. Also wird erst einmal ruhig gestellt, mit Psychopharmaka. Wenn es „notwendig“ ist, wenn sich der Patient also weigert, diese freiwillig zu nehmen – was eher die Regel als die Ausnahme ist – werden die Medikamente auch intravenös unter Fixierung zwangsverabreicht oder heimlich in Säften aufgelöst. Psychopharmaka heilen jedoch nicht, sie unterdrücken nur die Symptome. Sie haben starke Nebenwirkungen: Gewichtszunahme, emotionale Abstumpfung, Müdigkeit und vieles mehr. Die Betroffenen schildern sehr anschaulich, wie entwürdigt, entmenschlicht sie sich gefühlt haben und fühlen. Eine Ärztin spricht auch über die Spätfolgen und vor allem über den Teufelskreislauf: Wenn versucht wird, die Psychopharmaka abzusetzen, habe der Patient „eine andere Rezeptorlandschaft im Hirn.“ Mit der Folge, dass das Absetzen der Medikamente neue Krisen auslöst und neue, höhere Dosierungen erfordert. Überhaupt, die Dosis: Meist sei sie schlicht zu hoch. Insbesondere, wenn die Ärzte und Pfleger aus ihrem Alltag berichten, geht es um „das System“ und wie es möglich ist, innerhalb dieses Systems Gutes zu tun. Verteidigen will das System aber niemand in der Runde, die kritisch-produktive Dynamik hätte sich so auch nicht entfalten können. Langsam entsteht aus den Gruppen- sowie den Einzelgesprächen, die die Filmemacher im selben Stuhlkreis, im selben Raum auch geführt haben, ein dichtes Bild und auch so etwas wie eine Vision. Diese Vision betrifft zuvorderst uns. Sie ermuntert uns, mit Normabweichungen nicht panisch, sondern möglichst flexibel umzugehen: Auf Augenhöhe.
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