Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen

Drama | Deutschland/Griechenland 2016 | 73 Minuten

Regie: Marita Neher

Im griechisch-bulgarisch-türkischen Grenzgebiet begegnen sich 2014 zwei Frauen aus Deutschland, eine Journalistin und eine Aktivistin, die aus unterschiedlichen Gründen mit Medien und mit Geflüchteten arbeiten wollen. Weil sowohl das EU-Grenzregime als auch die Geflüchteten weitgehend unsichtbar bleiben, nutzen die Frauen die Zeit zur Auseinandersetzung und Selbstreflexion. Die ruppig-romantische Polit-Komödie entwickelt sich zum provokant satirischen Road Movie über Widersprüche sowie die Ratlosigkeit beim Versuch, politisch zu handeln, was zugleich Möglichkeiten und Unmöglichkeiten politischen Filmemachens umfasst. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland/Griechenland
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
Turanskyj&Ahlrichs Prod./Marita Neher Filmprod.
Regie
Marita Neher · Tatjana Turanskyj
Buch
Tatjana Turanskyj · Marita Neher
Kamera
Kathrin Krottenthaler
Musik
Niels Lorenz · Mario Schulte
Schnitt
Kathrin Krottenthaler
Darsteller
Nina Kronjäger (Lena) · Anna Schmidt (Amy) · Fabio Pink · Sven Seeger · Toby Ashraf
Länge
73 Minuten
Kinostart
16.03.2017
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Komödie | Road Movie
Externe Links
IMDb | TMDB

Satirisches Road Movie über die Widersprüche politischen Handelns

Diskussion
Griechenland kann sehr kalt sein, öde und grau, wenn man zur „falschen“ Jahreszeit dorthin reist. Wie die Journalistin, die allerdings auch nicht zum Spaß nach Griechenland gefahren ist, sondern um zum Thema „EU-Grenzregime“ zu recherchieren. Man schreibt das Jahr 2014. Noch dominiert die Griechenlandkrise das öffentliche Interesse; der mediale Ansturm der Geflüchteten steht erst noch bevor. Für die Reporterin bedeutet dies, dass sie vor Ort erst herausfinden muss, was sie eigentlich sucht. Grenzposten? Kasernen? Militär? Auffanglager? Zäune? Immer wieder schweift der Kamerablick ratlos aufs grau vor sich hin dümpelnde Mittelmeer. Einmal kann die Journalistin sogar Kontakt zu Geflüchteten herstellen. In einer hilflos-grotesken Szene fragt sie von einem Hügel herab nach der Herkunft derjenigen, die nicht so recht antworten. Doch die Journalistin recherchiert nicht nur die Krise, sie steckt selbst in einer Legitimationskrise: ihre Arbeit, ihre Berufserfahrung wird peu à peu entwertet. Noch kann sie sich Recherchen vor Ort leisten und im Hotel übernachten, aber die nächste Stellenstreichung steht bevor, weshalb sie nebenher schon nach anderen Themen Ausschau hält. Vielleicht fällt ja noch eine Geschichte über Kinderspielplätze in der Krise ab. Der Film „Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen“ von Marita Neher und Tatjana Turanskyj nähert sich seinem Thema mit ruppigem Humor und macht aus seinem Herzen keine Mördergrube. Das Budget ist gering, nicht immer lässt sich ausmachen, was improvisiert wurde und was mit hölzernem Verfremdungspfahl winkt. So wirkt der Film selbst etwas orientierungslos, was der Komödie allerdings sehr gut tut, wenn sie sich unvermittelt zum Road Movie entwickelt. Denn die Journalistin begegnet einer gleichfalls aus Deutschland stammenden Anhalterin, die sich als „Welcome Refugees“-Aktivistin zu erkennen gibt, aber auch recht ziellos unterwegs zu sein scheint. Da geflüchtete Menschen weit und breit nichts zu sehen sind, bleibt Zeit für eine Reihe recht wahlloser Interviews mit Einheimischen, die aufgrund virulenter Sprachprobleme aber nicht über Oberflächlichkeiten hinausführen. Stattdessen kommen die beiden Protagonistinnen miteinander ins Gespräch und tauschen sich über ihre wechselseitigen Projektionen aus. Mit satirischem Witz „entlarvt“ der Film die offenkundige Beschränktheit beider Positionen. Während die Journalistin überhaupt keinen handwerklichen Zugriff auf ihr Thema findet, sondern nur dekorative Ornamente um ein unsichtbares Zentrum sammelt, finanziert die Aktivistin ihr politisches Engagement durch Vermietung des von ihren Eltern geschenkten Wohneigentums. Ihrer Logik zufolge ist Aktivismus nur durch Selbstausbeutung denkbar – oder durch Kinder reicher Eltern. Worauf die Journalistin ihr zu erklären versucht, dass gerade diese Logik dem System zuarbeite, das sie, die Aktivistin, zu bekämpfen glaube. Andererseits hatte der Film schon zu Beginn in einer noch in Berlin spielenden Szene geradezu höhnisch vor Augen geführt, welcher mangelnde Respekt den Medien als vierter Gewalt entgegengebracht wird. Auch die Aktivistin hadert mit ihrer Position, weil sie sich in ihrer Rolle als „Aktivistin“ an die Mainstream-Medien verkaufen will, diese anderseits aber in ihrem Sinne subversiv zu instrumentalisieren versucht. Während der Film also eine umfassende Rat- und Orientierungslosigkeit auch dadurch dokumentiert, dass er diese durch sein provozierendes Mäandern verdoppelt, kann man sich fragen, ob „Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen“ mit satirischer Verve nicht auch der Hilflosigkeit eines bestimmten, historisch überholten Konzepts von politischem Kino und seiner exemplarischen Narration einen Spiegel vorhält. Allerdings ohne sich deshalb gezwungen zu sehen, eine konstruktive Alternative zu entwickeln. Was bleibt, ist eine Komödie der umfassenden Entfremdung, einer anwesenden Abwesenheit, die sich hier auch in der permanenten Präsenz moderner Kommunikationstechnologie dokumentiert.
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