Musikfilm | Deutschland/Kanada 2014 | 50 Minuten

Regie: Bruce LaBruce

Im Jahr 1912 vertonte Arnold Schönberg den Gedichtzyklus „Pierrot Lunaire“ von Albert Giraud mit atonaler Musik. Auf der Grundlage einer Bühnenversion dieses Schlüsselwerks der frühen Moderne erzählt der Film von Bruce LaBruce im Stil eines visuell wie sprachlich verspielten Queer-Cabarets von einer als Mann verkleideten Frau auf der Suche nach einem Phallus. Die somnambule Stimmung von Text und Musik bietet dafür einen passenden Rahmen. Zwar ist der schwarz-weiße Film mit seiner starken Anlehnung ans expressionistische Kino durchaus stimmig inszeniert, doch nimmt Schönbergs Stück die Aufmerksamkeit des Zuschauers so sehr in Anspruch, dass der Film daneben regelrecht verblasst.
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Filmdaten

Originaltitel
PIERROT LUNAIRE
Produktionsland
Deutschland/Kanada
Produktionsjahr
2014
Produktionsfirma
Die Lamb/Hebbel-Theater Berlin/Jürgen Brüning Filmprod.
Regie
Bruce LaBruce
Buch
Bruce LaBruce
Kamera
Ismail Necmi
Musik
Premil Petrovic
Schnitt
Jörn Hartmann
Darsteller
Susanne Sachsse (Pierrot Lunaire) · Paulina Bachmann (Columbine) · Boris Lisowski (Vater) · Krishna Kumar Krishnan (Taxifahrer)
Länge
50 Minuten
Kinostart
02.10.2014
Fsk
ab 16; f
Genre
Musikfilm

Heimkino

Verleih DVD
GM Films (16:9, 1.78:1, DD2.0 dt.)
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Diskussion
Wenn aus einem Albert-Giraud-Gedicht mit dem Titel „Dandy“ ein „Butch Dandy“ wird und aus „Pierrot“ ein „Zombie Pierrot“, kann Bruce LaBruce nicht weit sein. „Inspired by a true story“ heißt es am Anfang und gleich danach: „as our story begins“. „Pierrot Lunaire“ arbeitet mit grellen Kontrasten. Hier die Referenz zur Wirklichkeit, da das Märchen. Zudem: Drama und Groteske, Elektro-Sound und Schönberg, Transgression und Retro-Flair, Schwarz und Weiß (die Bilder haben wenig Graustufen, die Nacht ist tiefschwarz, Haut hell wie pures Licht). 2011 hat Bruce LaBruce Schönbergs „Pierrot Lunaire“ auf eine Berliner Theaterbühne gebracht, eine auf den ersten Blick nicht unbedingt naheliegende Wahl für einen Filmemacher, der als Ikone des schwulen Underground-Art-Pornos und des Queercores gilt. „Pierrot Lunaire“ ist ein Schlüsselwerk der frühen Moderne und der atonalen Musik, Schönberg hat es 1912 für eine weibliche Sprechstimme und ein Kammerorchester auf der Grundlage des expressionistischen Gedichtzyklus von Giraud geschrieben. Die Struktur ist cabaret-artig: Jedes Gedicht beschreibt eine kleine, meist sehr bildhafte Szene, mit dem „mondsüchtigen Pierrot“ als Hauptfigur. Doch wie die anderen Filme des Kanadiers handelt auch „Pierrot Lunaire“ von der Überschreitung – Schönberg sprach von Klängen als „geradezu tierisch unmittelbarer Ausdruck sinnlicher und seelischer Bewegungen“; die Grundstimmung des Stücks ist somnambul und von dunklem Humor durchsetzt. Und nicht zuletzt bietet sich der androgyne Pierrot für geschlechterpolitische Neuinterpretationen geradezu an. Der Film verarbeitet Ausschnitte aus der Bühnenaufführung und verbindet sie mit nachgedrehten Szenen auf den Straßen in Berlin, als Soundtrack dient Schönbergs Musik, gesungen von La Bruce-Habitué Susanne Sachsse, unter der musikalischen Leitung von Premil Petrović. Die Geschichte ist schnell erzählt und soll sich so oder so ähnlich in Toronto zugetragen haben. Eine junge Frau, die sich als Junge verkleidet, liebt Columbine – im Film ist es eine blonde Beauty, die eingangs einen Striptease im Scheinwerferlicht eines Wagens tanzt, darin Pierrot, der sie anfeuert: „Take it off!“ ist auf einer Texttafel zu lesen. Columbine weiß nicht, dass ihr Liebhaber ihrem eigenen Geschlecht angehört, ihr Vater aber kommt dahinter und verbietet jeden weiteren Kontakt. Also versucht Pierrot aus Verzweiflung, sich einen „eigenen“ Phallus zu beschaffen, mit recht drastischen Mitteln. Die Adaption von Bruce LaBruce hat Ankläge an den Stummfilm, speziell an das expressionistische Kino, aber auch an surrealistische Bildwelten, Splatter und queere Clubkultur. Bilder verdoppeln und überlagern sich – so gleitet ein Mond langsam durchs Bild, während Pierrot in der Hocke pinkelt –, mitunter gibt es Verzerrungen, kaleidoskopartige Auffächerungen, Rohrschacheffekte. Einmal klatschen rote Farbflatschen auf das Schwarz-Weißbild, die Texttafeln wiederum sind eine Art Bühne für Sprachspiele und literarische Referenzen („Dick-capitation“, „a cock, a cock, my kingdom for a cock“). Visuell ist „Pierrot Lunaire“ eine runde Sache, Brüche gibt es nicht, sogar die Bühnenebene verbindet sich organisch mit der Berliner „Wirklichkeit“. Die Bilder sind schön anzusehen, nur gelegentlich illustrieren sie den Text, ihre Assoziationen sind ansonsten eher atmosphärischer Art. Doch so sehr die Verbindungen von „Pierrot Lunaire“ und Bruce LaBruce in der Theorie auch einleuchten mögen, so wenig zwingend erscheinen sie in der Umsetzung. Auch heute noch wirkt das Schönberg-Stück unglaublich verdichtet und intensiv, Musik und Text rufen unmittelbar ganz eigene, mitunter drastische Bilder hervor. Da wird die Luft sehr dünn für das filmische Medium.
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