Polder - Tokyo Heidi

Drama | Schweiz/Deutschland 2015 | 94 Minuten

Regie: Julian M. Grünthal

Die Witwe eines Computerspiele-Designers gerät auf schmerzhafte Weise in den Bann virtueller Welten, als ihr Sohn in die digitale Sphäre gesaugt wird. Sie folgt ihm und landet in einer lebensbedrohlichen Sphäre, die von Rittern, Hexen, Dämonen und Terroristen bevölkert wird und in der in einem Gadget die geheimen Sehnsüchte die Spieler notiert und mit ins Geschehen eingespeist werden. Science-Fiction-Fantasie, in der die Aufhebung der Grenze zwischen Realität und Fantasie auch visuell vollzogen wird. Während der Film ästhetisch einen Brückenschlag zwischen „Heidi“-Büchern, „Alice im Wunderland“ und japanischen Mangas wagt, stößt er als Meta-Reflexion über das Imaginäre immer wieder an Grenzen. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
POLDER - TOKYO HEIDI
Produktionsland
Schweiz/Deutschland
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
Dschoint Venture Filmprod./Niama-Film/SRF/SWR
Regie
Julian M. Grünthal · Samuel Schwarz
Buch
Samuel Schwarz
Kamera
Quinn Reimann
Musik
Michael Sauter
Schnitt
Jann Anderegg
Darsteller
Nina Fog (Ryuko / Geisha) · Christoph Bach (Marcus / Samurai) · Pascal Roelofse (Walterli / Heidi) · Philippe Graber (Stauffacher / Sören Madsen) · Samuel Schwarz (Francis Wartmann)
Länge
94 Minuten
Kinostart
01.12.2016
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Science-Fiction
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
good!movies
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Schrillbunter Virtual-Reality-Thriller

Diskussion
„Die subjektiv erlebte Zeit ist viel länger als die objektiv verbrachte Zeit. Das Spiel fungiert als Verlängerung des Lebens“, lockt die verführerische Stimme eines Avatars. Gleich zu Beginn von „Polder – Tokyo Heidi“ fungiert die Leinwand als eine Art digitaler Computerscreen, der zum Ausgangspunkt einer Reise in die Tiefen künstlicher Welten wird. Bildlich stellt sich das als eine archaisch idealisierte, von der Zivilisation weitgehend unberührte (Schweizer) Alpenlandschaft dar, in der sich Menschen oder deren virtuelle Repräsentanten in Zeitlupentempo bewegen, wobei sie sich vage an ihr früheres Leben im Analogen erinnern: „Es sieht genauso aus, wie ich es im Gedächtnis habe… Ich hab’ etwas vergessen, ein Passwort.“ Es dauert ein wenig, bis sich aus dem Durch- und Übereinander der schrillbunten Bilder, aus dem Stimmengewirr und dem überbordend-barocken Gesamteindruck ein Plot herausschält. Der Computerspiele-Designer Marcus ist offenbar gestorben. Seine Lebensgefährtin Ryuko will den Ursachen seines Todes auf die Spur kommen und erhält von Marcus aus dem Totenreich versteckte Hinweise auf eine Verschwörung. Später gerät Ryukos kleiner Sohn Walterli in den Sog eines neuen, hochgefährlichen Spiels. Deshalb muss auch Ryuko ins Computerspiel einsteigen und sich mit Hexen, Rittern, Dämonen und Terroristen auseinandersetzen. Der Satz, „Denk nach, dann wirst Du verstehen“, wird zum Motto ihrer Reise. Dantes „Inferno“ und „Alice im Wunderland“, der Bergkitsch der „Heidi“-Bücher und die Ästhetik japanischer Mangas reichen sich hier die Hand. Der Film der beiden Regisseure Samuel Schwarz und Julian M. Grünthal funktioniert dabei linear und ganz für sich, obwohl er auf ein transmediales Projekt zurückgeht, das unter dem Namen „Der Polder“ als Theater, Performance und in Gestalt von Apps bereits vor dem Film existierte. Die Aufhebung der Grenzen zwischen Realität und Fantasie, die Frage nach dem Wesen unserer Vorstellungen, Ängste und Träume, oder auch nach dem vielleicht ziemlich imaginären Charakter vermeintlich sinnlicher Gewissheit begleitet das Kino seit frühester Zeit. Es verwundert auch nicht, dass solche Fragen häufig im Gefolge technischer Umbrüche auftreten und sich heute gerne ins Gewand von Computerspiele-Filmen oder Virtual-Reality-Thrillern kleiden. Das sind allesamt Abwandlungen des Science-Fiction-Genres, weshalb es auf der Hand liegt, „Polder – Tokyo Heidi“ mit Filmen wie „Strange Days“ (fd 31 767), „eXistenZ“ (fd 33 962), „Matrix“ (fd 33 720) oder „13th Floor“ (fd 33 993) zu vergleichen. Mit Cyber-Thrillern aus der Zeit Ende der 1990er-Jahre also, in denen die Verwischung der Grenze zwischen „künstlichen“ Computer-Welten und der „Realität“ im Zentrum stand – einer Auflösung, der das Kino seitdem trotz aller technischen Innovationen seltsam wenig hinzugefügt hat. Es führt eine gerade Linie von „Der Zauberer von Oz“ (fd 30 170) über „Vertigo“ (fd 7835) und „Blade Runner“ (fd 23 689) hin zu den „Alternate Reality Games“ der Spiele-Industrie und deren Rekurs aufs Kino, das sich seinerseits längst nicht mehr nur den Bildwelten, sondern auch den Dramaturgien und Narrativen der Games anpasst. Eines der besten Beispiele dafür ist die japanische „Gantz“-Serie, die es bislang auf fünf Teile gebracht hat und der gegenüber alle US-Superhelden höchst antiquiert anmuten. Denen steht „Polder – Tokyo Heidi“ aber ähnlich nahe wie „Vertigo“, in dem aus der Kraft der Liebe auch schon der Schein geboren wurde, der gleichzeitig täuscht und befriedigt. Mitnichten also wäre „Cyber-Thriller“ oder „Virtual Reality“ gleichzusetzen mit „unwirklich“, mit „nicht mehr Kino“. Im Gegenteil ist es den Machern um die Wirklichkeit und die materielle Macht des Imaginären zu tun. Dass das Kino nur zu retten ist, indem man es überschreitet und in seiner jetzigen Form aufhebt, indem es weniger moralische Anstalt, Manifest-Maschine und Konsensfabrik ist, dafür mehr Varieté, Schule des Ästhetischen, Irritationsmaschine und Dissensfabrik, das ist die tiefere Wahrheit, die „Polder – Tokyo Heidi“ entfaltet. Insofern ist dieser Film eine produktive Zumutung, die auf die Zukunft des Kinos verweist. Wir müssen nur wollen.
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