Drama | Island/Dänemark/Kroatien 2015 | 99 Minuten

Regie: Rúnar Rúnarsson

Ein sensibler Jugendlicher aus Reykjavik muss zu seinem proletenhaften Vater in ein Dorf im Nordwesten Islands ziehen. Auch die Gleichaltrigen begegnen dem musisch begabten Heranwachsenden mit ruppiger Ablehnung. Nur in der Großmutter spürt er eine Seelenverwandte. Als sie stirbt, droht er das Gleichgewicht zu verlieren. Das herausfordernde Existenzdrama erzählt in ruhigen Bildern vom Ausgesetztsein in einer rauen, befremdlichen Welt, in der selbst die Natur mit ihrer Schroffheit keine Zuflucht bietet. Nur die Musik scheint eine Art Exil zu eröffnen. - Ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
PRESTIR
Produktionsland
Island/Dänemark/Kroatien
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
Brigitte Hald Prod./Nimbus Film Prod./Nimbus Iceland/MP Films/Pegasus Pic./Halibut
Regie
Rúnar Rúnarsson
Buch
Rúnar Rúnarsson
Kamera
Sophia Olsson
Musik
Kjartan Sveinsson
Schnitt
Jacob Secher Schulsinger
Darsteller
Atli Oskar Fjalarsson (Ari) · Ingvar Eggert Sigurdsson (Gunnar) · Nanna Kristín Magnúsdóttir (Kristjana) · Rade Serbedzija (Tomislav) · Kristbjörg Kjeld (Großmutter)
Länge
99 Minuten
Kinostart
24.11.2016
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Sensibler isländischer Junge wird in hartes Provinzleben verpflanzt

Diskussion
Als der 16-jährige Ari auf Geheiß seiner Mutter von Reykjavík zu seinem Vater in ein Dorf im Nordwesten Islands ziehen muss, steht er einsam im Ausgang des flachen Flughafengebäudes. Er wartet auf einen ihm fremd gewordenen Mann. Zur Begrüßung klopft ihm der lederbejackte Bärtige kurz und aufmunternd auf den Oberarm, schon geht es los. Er steuert das Auto durch einen Tunnel hindurch, geradewegs auf das neue Zuhause zu. Wieder im Freien, weiten sich der Blick und der Raum. Ein umwölkter Berg mit moosigem Grün und kleinen Schneefeldern hebt sich aus der Landschaft monumental empor. Sinnbildlich wird der Junge in eine phallische Szenerie hineingetrieben, wo man aus ihm einen richtigen Mann machen will. Der Vater hat sich für den Sprössling bereits ein passendes Programm ausgedacht. Gleich am nächsten Tag wird Ari in der Fischfabrik anfangen. Zukünftig soll er, der Muskeln wie ein kleines Mädchen hat, kräftig zupacken können. Ein verwegener Plan. Denn Ari war bisher ein talentierter Sänger in einem Kirchenchor. Auf dem einsamen Land erwachsen zu werden, war für junge Leute schon immer nicht einfach, zuweilen sogar schlichter Horror. Zumal, wenn dieser Lebensabschnitt in nördlichen Gefilden spielt. Man denke nur an den dänischen Film „When Animals Dream“ (2014, (fd 42 518)) von Jonas Alexander Arnby, in der ein Mädchen sich gegen die Zumutungen der Erwachsenenwelt nur noch zu helfen weiß, indem sie sich in einen Werwolf verwandelt. Auch in „Sparrows“ sind die Erwachsenen und Mitheranwachsenden nervig, bevormunden oder werden zudringlich. Aber Ari nimmt dieses Verhalten zumeist still in sich auf. In einem langsamen, ruhigen Bilderfluss begleitet Rúnar Rúnarsson Ari auf seinem Weg und erforscht immer wieder in dessen Mienenspiel, wie er auf die Welt reagiert. Eine weitere Hauptrolle spielt die imposante, raue Landschaft, deren Weite mit der Enge im Haus, mit knappen Bildausschnitten, durch Türen oder Wände begrenzt, mit Aris Figur eingefangen in hohen, schmalen Spiegeln kontrastiert wird. Die isländische Landschaft spiegelt diese spannungsreiche Entwicklungsphase, und Rúnarsson macht sich ihren erhabenen Anblick bildästhetisch formvollendet zunutze. Sie verändert ihr Aussehen ständig, ist immer in Bewegung: Wolkengebirge ballen sich, werden von Sonnenstrahlen umspielt und lösen sich gefällig in einem blauen Himmel auf. Alles ist im Fluss, wie bei einem jungen, beweglichen Menschen, der darum auch für Verlorenes noch Ersatz finden kann. Seit der Junge auf dem Land lebt, hat er kein einziges Mal mehr seine Kopfhörer aufgesetzt und Musik gehört. Dabei war die Musik zuvor so wichtig für ihn. Nur einmal überkommt ihn die Lust, und er betritt ein leeres Getreidesilo. Klar und rein hebt sich seine Stimme zum Licht empor, das wie im römischen Pantheon durch ein Kuppelauge einströmt. Aber solch ein Kunsterlebnis hat im Leben des Dorfs keinen Platz, auch wenn seine Stimme sogar den Vater rührt. Für diesen – und zugleich für diesen Flecken Erde, der unter dem globalisierten Kapitalismus leidet – zählt nur selbstverdientes Geld, nur das macht aus einem Jungen einen Mann. Bei der Großmutter dagegen findet Ari Verständnis, sie lehnt den „Macho-Quatsch“ des Vaters ab. Aber sie entstammt auch einer älteren Generation und vermittelt die vom Vater als altmodisch verunglimpften Werte. Sie hält ihren Sohn dazu an, Vorbild zu sein, und spricht sich für durchlässigere Geschlechterrollen aus. Ein Junge darf schon einmal Mädchensachen machen und auch weibliche Freunde haben. Doch alles Alte stirbt, so auch die Großmutter. Der Bewältigung ihres Todes weist der Regisseur einen zentralen Platz in der Mitte des Films zu. Innerlich völlig aufgewühlt, steigt Ari in die Höhe, steht einsam vor einem der grandiosen Berge, mit Tränen in den Augen, die goldfarbene Sonne umstrahlt seinen Kopf. In der sinnlichen Erfahrung der erhabenen Landschaft kann sich großer Schmerz also genauso lösen wie in der Musik. Und sie versetzt den Jungen am Ende in die Lage, in einem dramatischen emotionalen Konflikt eine moralische Entscheidung zu treffen, die reichlich Stoff für eine Diskussion bietet.
Kommentar verfassen

Kommentieren