Drama | Frankreich/Deutschland/Afghanistan/Großbritannien 2012 | 102 (24 B./sec.)/98 (25 B./sec.) Minuten

Regie: Atiq Rahimi

Eine junge afghanische Mutter bringt ihre beiden Töchter bei einer Tante unter, weil das Leben in der Stadt zu gefährlich geworden ist. Sie selbst harrt bei ihrem im Koma liegenden Ehemann aus und beginnt, ihm ihre Gedanken und Gefühle zu erzählen. Ihre monologischen Geständnisse leben ganz von der Kunst der eindrucksvollen Hauptdarstellerin, die der Ohnmacht ihrer Figur kämpferische Gefühle, aber auch viel Humor entgegensetzt. Ein fesselndes Frauenporträt, das als Protokoll eines sich anbahnenden Befreiungsakts angesichts der realen Verhältnisse in Afghanistan umso mehr erschauern lässt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
SYNGUÉ SABOUR | LA PIERRE DE PATIENCE | THE PATIENCE STONE
Produktionsland
Frankreich/Deutschland/Afghanistan/Großbritannien
Produktionsjahr
2012
Produktionsfirma
The Film/Studio 37/Razor Film/Arte France Cinéma
Regie
Atiq Rahimi
Buch
Jean-Claude Carrière · Atiq Rahimi
Kamera
Thierry Arbogast
Musik
Max Richter
Schnitt
Hervé de Luz
Darsteller
Golshifteh Farahani (Frau) · Hassina Burgan (Tante) · Massi Mrowat (junger Soldat) · Djavdan Djavdan (Mann)
Länge
102 (24 B.
sec.)
98 (25 B.
sec.) Minuten
Kinostart
10.10.2013
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Diskussion
Mit seinem ersten, auf Französisch verfassten Roman „Stein der Geduld“ gewann der aus Afghanistan stammende Atiq Rahimi 2008 auf Anhieb den prestigeträchtigen Goncourt-Preis. Der 1962 in Kabul geborene und seit den 1980er-Jahren in Frankreich lebende Schriftsteller, Filmregisseur und ehemaliger Filmkritiker übernahm wie schon bei „Erde und Asche“ (fd 38 233) die Verfilmung selbst. Sein Kammerspiel besticht trotz einer vordergründig statischen Dramaturgie durch eine Frauenfigur, die inmitten eines Kriegsinfernos aus explodierenden Bomben und pausenlosen Schießereien ihr bisheriges Leben hinterfragt. Während ihr verletzter Ehemann komatös in einem Zimmer liegt, verlässt sie, verhüllt mit einer Burka, immer wieder das Haus, um ihre beiden Töchter durchzubringen. Der Rest der Verwandtschaft hat der vom Bürgerkrieg erschütterten Stadt schon lange den Rücken gekehrt. Ein brutaler Überfall auf die Nachbarn zwingt die Frau schließlich doch, die Kinder bei einer Tante in Sicherheit zu bringen. Ihr selbst bleibt nichts anderes übrig, als bei dem Kranken auszuharren, da sie ohne eigenes Auskommen und ohne männlichen Schutz in der patriarchalischen Gesellschaft Afghanistans immer mit Übergriffen rechnen muss. Ermutigt durch die stumme Passivität des einstigen Tyrannen, beginnt sie auf ihren viel älteren Gatten einzureden, der sieben der zehn lieblosen Ehejahre an der Front verbracht hat. Die lange wie ein willenloses Kind behandelte Frau konfrontiert ihn mit ihren Ängsten und Sehnsüchten, mit all dem Ungesagten, das jetzt wortreich aus ihr heraussprudelt. Die auf diese Weise neu aufgestellte Beziehung beginnt wie in der afghanischen Legende jenem ,Stein der Geduld‘ zu ähneln, dem man solange seine intimsten Gedanken, Geheimnisse und Sorgen anvertrauen kann, bis er zerspringt und den Leidenden damit vom Ballast der Vergangenheit befreit. Die ruhige Kamera folgt dem inneren Emanzipationsdrang der Protagonistin mit farblich sorgfältig komponierten Bildern und bleibt auch dann noch unaufgeregt, als ein junger Kämpfer in die Zweisamkeit des Paars eindringt. Mit dem schönen, aber sprachgehemmten Jüngling beginnt die sexuell unterdrückte Frau eine rein körperliche Affäre, deren Details sie ihrem Mann genüßlich ausbreitet. Dazu zählen auch abgeklärte Kommentare einer Tante, die als Prostituierte arbeitet, und gleichfalls über das „unerhörte“ Geschehen auf dem Laufenden gehalten wird. Die monologische Grundkonstellation der fortschreitenden Geständnisse lebt von der großartigen Hauptdarstellerin Golshifteh Farahanis (u.a. „Elly…“, fd 40 245, „Huhn mit Pflaumen“, fd 40 487), die der Ohnmacht ihrer Figur kämpferische Gefühle wie Hass und Zorn, aber auch reichlich Humor entgegensetzt und dabei all die Ungerechtigkeiten, die ihr bisher widerfahren sind, mit selbstbewusster Lebensbejahung zu verarbeiten scheint. Eine klug reflektierende Erzählerin auf den Spuren von Scheherazade in „Tausendundeiner Nacht“, die dem Fundamentalismus ihrer Umgebung mit einem grenzenlosen Überlebenswillen zu trotzen weiß. Ein fesselndes Frauenporträt und zugleich das Protokoll eines sich anbahnenden Befreiungsakts, das angesichts der drohenden Rückkehr Afghanistans zum alten Status quo erschauern lässt.
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