Dokumentarfilm | Deutschland 2014 | 89 Minuten

Regie: Philip Widmann

Das Protokoll einer Affäre Anfang der 1970er-Jahre in Köln: Ein Mann hält in buchhalterischer Manier die Treffen mit seiner Sekretärin fest. Eine zentrale Rolle nehmen dabei Häufigkeit, Qualität und Hergang der sexuellen Begegnungen ein. Begleitet und konterkariert wird die nüchtern referierte Chronik von Statistiken, Zitaten und filmischen Dokumenten aus der Zeit, visuell verankert im heutigen Köln. Eine spannender, unangestrengt-experimenteller Dokumentarfilm, der ein ebenso einzigartiges wie exemplarisches Zeitbild entwirft und zugleich leichtfüßig die Schnittmengen von Geschichte, Erinnerung und Identität reflektiert. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2014
Produktionsfirma
Works Cited/Blinker Filmprod.
Regie
Philip Widmann
Buch
Philip Widmann
Kamera
Karsten Krause · Philip Widmann
Schnitt
Philip Widmann · Karsten Krause
Darsteller
Lisa Arndt (Frau) · Odine Johne (Monika) · Kenneth Huber (Hans)
Länge
89 Minuten
Kinostart
09.04.2015
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Der Chef und seine Sekretärin. Eine mustergültige Affäre, Projektionsfläche für allerlei Schlüpfrigkeiten, beispielhaft für die durchschnittliche Rollenverteilung in der Bundesrepublik Deutschland. Die Geschichte, die Philip Widmann und Karsten Krause in „Szenario“ erzählen, spielt 1970. Hans und Monika haben ein Verhältnis, beide sind verheiratet. Hans ist der gut situierte Chef Ende Dreißig, Monika seine attraktive Sekretärin Mitte Zwanzig. Es könnte jedem passieren, so oder so: Man findet einen Schuhkarton, beispielsweise auf dem Flohmarkt, voll mit vergilbten Fotos, Briefen, Erinnerungsstücken. Es könnte auch die eigene Biografie sein, in dem Karton, die eigenen Erinnerungen. Hans’ Notizen lagen in einem Koffer, der bei der Auflösung seiner Wohnung gefunden wurde. Die Galeristin Susanne Zander machte aus den Bildern und Artefakten, aus Hans’ pedantischen Notizen, ein Buch: „Margret – Chronik einer Affäre“. Widmann und Krause haben diese Chronik als Dokument verfilmt, aber unter neuen Vorzeichen. Margret und Günter heißen nun Hans und Monika, die Namen entspringen der „Top Ten“ der beliebtesten Vornamen für Hans’ und für Monikas Generation. Das Objekt von Hans’ Aufzeichnungen ist Monika; manisch kreisen sie um die Geliebte. Eine weibliche (Cora Frost) und eine männliche (Gustav Peter Wöhler) Stimme referieren nüchtern. Selten finden sich Gefühlsäußerungen, Hans beschreibt Monikas Kleidung, Materialien, Farben, ihre Stimmungen. Was wurde gegessen, was wurde getrunken? Hatte sie Lust, dass er sie fotografierte (er hat viel fotografiert), hatte sie „ihre Tage“ oder nicht? Zentral im Logbuch kleinbürgerlich domestizierter Erotik sind dagegen Uhrzeit, Datum, Ort, Stellung (Rückenlage oder Spezialstellung) des „GV“, des Geschlechtsverkehrs: „Nach Geschäftsschluss nach oben und um 17 Uhr 15 – 17 Uhr 30 in Rückenlage 1x geliebt. Anschließend nach Alt-Köln.“ Gelegentlich wird die Sprache auch derber, der Ton bleibt bürokratisch. Oben – das ist die eigens angemietete Wohnung über dem Betrieb, ausgestattet als rotplüschiges Etablissement. Hans’ Ehefrau weiß von der Affäre, Monikas Ehemann Walter ahnt nichts. Die grazil geschwungenen Metalltreppengeländer in Gold und Weiß, die Betonfassaden, die rautenförmig strukturierten Lüster, blaue Mosaikwände, auch schmucklos schnell hochgezogene Asbestfassaden funktionaler Einfamilienhäuser: die Kölner Nachkriegsarchitektur wird zur Projektionsfläche der Projektionsfläche. Die Kamera streift durch die heutige Stadt, fängt scheinbar beliebige Straßenszenen und Dialogfetzen ein. Aus Monika wird Erika Mustermann: Statistische Kaskaden – wie viele Frauen, wann und warum – alternieren mit Ausschnitten aus Lehrfilmen, mit Zitaten aus Fragebögen („Wenn Sie noch einmal geboren würden, wären Sie lieber ein Mann oder eine Frau?“), aus einer Fachzeitschrift für Sekretärinnen, aus „Jasmin – Das Magazin für das Leben zu Zweit“. Aus Monika, dem Objekt von Hans’ verwaltungs- wie kontrollsüchtigen Aufzeichnungen, wird ein statistisches Subjekt. Vielfältig schichtet sich die Erinnerung, verdichtet sich die gewesene Wirklichkeit zu der Fiktion, zu der Erinnerung zwangsläufig wird, zu einem Szenario, zu einem sarkastischen Sittengemälde des Wirtschaftswunderdeutschlands, nach 1968 gesegnet mit der „sexuellen Befreiung“. Das bedeutet für Monika beispielsweise im November 1970 die dritte Abtreibung in ihrem Leben. Hans zahlt dafür, alles wird notiert. Es gibt eine einzige Spielszene und eine, in der man auf die beiden Liebenden durch ein Fenster und zurückgezogene Spitzengardinen blickt, nach dem Akt auf dem Bett liegend. In der Spielszene steht die Frau vor dem Spiegel und schminkt sich, mit rot hochtupiertem Haar. Hinter ihr steht der Mann und sieht ihr zu. Auf den Fotos zeigen Widmann und Krause hingegen keine Gesichter – Teil der paradoxen Subjektivierung Monikas? Wie in der Kunst der Französin Sophie Calle wird der Betrachter stets auch auf seinen eigenen Voyeurismus zurückgeworfen. Die mit technokratischem Eifer aufgezeichneten Begegnungen entwickeln einen dokumentarisch unheimlichen Sog. Suspense erwächst aus dem Nichts, dem Abgrund westdeutscher Befindlichkeiten: „Sie war außer sich, denn dieses Mädchen war Monika an Jugend, Wuchs und Schönheit überlegen, äußerst geschmackvoll gekleidet und gebildet im Aussehen.“
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