Drama | Ungarn/Deutschland/Schweden 2014 | 121 Minuten

Regie: Kornél Mundruczó

Eine 13-Jährige wird von ihrem hysterischen Vater gezwungen, sich von ihrem gemischtrassigen Hund zu trennen. Der Vierbeiner gerät zunächst in die Hände eines Mannes, der ihn zum Kampfhund abrichtet, und landet dann in einem Tierheim, bis er ausbricht und sich mit anderen Schicksalsgenossen zu einer Hundearmee gegen die Menschen verbündet. Die märchenhafte Dystopie über die Rache der geschundenen Natur verbindet Elemente des Horrorfilms und des Melodrams, wobei die Inszenierung weniger durch psychologische Glaubwürdigkeit als durch zorniges Pathos überzeugt. In Form eines Gleichnisses richtet sich der Film vehement gegen jede Form von Rassismus und inhumane Ausgrenzungstendenzen. Überdies lässt er sich als Allegorie auf das gestörte Gleichgewicht von Mensch und Natur lesen. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
FEHÉR ISTEN
Produktionsland
Ungarn/Deutschland/Schweden
Produktionsjahr
2014
Produktionsfirma
Proton Cinema/Pola Pandora Filmprod./Filmpartners/The Chimney Pot/Hungarian National Film Fund/ZDF-ARTE/Film i Väst
Regie
Kornél Mundruczó
Buch
Kornél Mundruczó · Viktória Petrányi · Kata Wéber
Kamera
Marcell Rév
Musik
Asher Goldschmidt
Schnitt
Dávid Jancsó
Darsteller
Zsófia Psotta (Lili) · Sándor Zsótér (Dániel) · Lili Horváth (Elza) · Szabolcs Thuróczy (alter Mann) · Lili Monori (Bev)
Länge
121 Minuten
Kinostart
25.06.2015
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Horror | Melodram
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Märchenhaft-düstere Parabel gegen rassismus und Ausgrenzung

Diskussion
Im August 1904 schreibt der Dichter Rainer Maria Rilke einen tröstenden Brief an seinen von unsagbarer Trauer befallenen Bekannten Franz Xaver Kappus. „Wie sollten wir“, so heißt es darin, „jener alten Mythen vergessen können, die am Anfange aller Völker stehen, der Mythen von den Drachen, die sich im äußersten Augenblick in Prinzessinnen verwandeln; vielleicht sind alle Drachen unseres Lebens Prinzessinnen, die nur darauf warten, uns einmal schön und mutig zu sehen. Vielleicht ist alles Schreckliche im tiefsten Grunde das Hilflose, das von uns Hilfe will.“ Kornél Mundrúczo, einer der ganz wenigen Regisseure, die den Kahlschlag des ungarischen Kinos unter der rechtskonservativen Orbán-Regierung bislang noch einigermaßen unbeschadet überstanden haben, nutzt den letzten Satz dieses Zitats als Motto für seinen Film „Underdog“: Tatsächlich geht es hier um eine märchenhafte Parabel, deren Hauptfiguren – ein Kind und ein Hund – durch ein Tal der Verzweiflung, ein modernes Höllenfeuer, gehen müssen, um am Ende, vielleicht, gemeinsam das Tor zu einer geläuterten Welt aufstoßen zu können. Die hilfsbedürftige Kreatur, die eine solche Läuterung erzwingt, ist ein Hund mit dem aus dem Nibelungenlied entlehnten Namen Hagen: freilich kein reinrassiger ungarischer Hirtenhund, sondern ein Mischling – oder ein „Bastard“, wie der Vater der 13-jährigen Lili abschätzig betont. Lili, deren Mutter für einige Monate nach Australien verreist, lässt die Tochter mit Hagen in der Obhut des Ex-Ehemannes zurück. Das ist der Beginn der Katastrophe. Was folgt, ist ein erregendes, nicht zuletzt durch die „Ungarische Rhapsodie“ von Franz Liszt auch musikalisch aufgeladenes, emotionales Gleichnis von Dogmatismus, Hass, Verrat und Rache – und von einer vagen, aber dennoch möglichen Rettung. Der Vater, aus der Perspektive von Lili wie nahezu alle erwachsenen Figuren als überforderter Dauerhysteriker gesehen, setzt den Hund, der ihn nervt, kurzerhand auf die Straße. Hagen wird zum Opfer, zum Outlaw, gejagt und in Tierheime gepfercht. Ein brutaler Hundekampftrainer macht ihn mit einer Peitsche scharf. Konditionstraining auf dem Laufband, die Zähne geschliffen und gefletscht: Filmisch ist das als Tour de force erzählt, die schlimmste Befürchtungen aufkommen lässt. Tatsächlich mutiert die gepeinigte Kreatur zur Bestie, sammelt Schicksalsgenossen um sich, führt eine Hundearmee an: ein wohl organisierter Kampftrupp, ein tierischer Tsunami mitten in der Großstadt, vor dem kein Mensch sicher sein kann. Mundrúczos Dystopie jongliert mit Elementen des Melodrams und des Horrorfilms, setzt dabei allerdings weniger Wert auf psychologische Glaubwürdigkeit als auf den zornigen Effekt. Dass mit den Ausgegrenzten und an den Rand der Gesellschaft Gedrängten nicht unbedingt (nur) Hunde gemeint sind, sondern alle, die von der aktuellen Politik um ihre Würde gebracht werden – angefangen von Obdachlosen und Asylanten bis zu den in Ungarn nicht eben freundlich behandelten Sinti und Roma –, versteht sich von selbst. Mundrúczo verzichtet weitgehend auf digitale Tricks, sondern ließ seine tierische Hauptfigur – gespielt von zwei verschiedenen Hunden – durch Tiertrainer ausrichten. Das verschafft dem Film eine durchaus sympathische Note von analoger Klassizität. Dass die Suche Lilis nach Hagen und die von Hagen nach Lili in Parallelmontagen erzählt ist, trägt zur Spannung wesentlich bei. Nur im Schlussbild verlässt Mundrúczo diese subjektive Doppelperspektive und objektiviert das Geschehen. In einer Totale schwenkt die Kamera nach oben und nimmt gleichsam einen überirdischen Blick ein, den Blick des Weltgeistes oder den Blick Gottes, wenn man so will. Eine beklemmende Stille tritt ein, Hunde und Menschen liegen sich am Boden gegenüber, niemand weiß, was dieser unruhigen Ruhestellung folgen wird. Das erinnert an das Finale von Hitchcocks „Die Vögel“ (fd 11 963). Wer weiß: Vielleicht ist „Underdog“ bei aller Kritik an Rassismus und Ausgrenzung ja auch ein Film über das noch größere, globale und existentielle Problem des gestörten Gleichgewichts von Mensch und Natur? Die ins Gewand einer Rilkeschen Drachensaga gekleidete Aufforderung, wieder zueinander zurückzufinden, bei Strafe des Untergangs, falls die Menschheit nicht zur Besinnung kommt.
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