Where is Rocky II?

Mockumentary | Frankreich/Deutschland/Belgien/Italien 2016 | 93 Minuten

Regie: Pierre Bismuth

Experimenteller Doku-Fiction-Film als eine Art Essay über kreatives Denken, der einen 1979 von dem US-amerikanischen Künstler Ed Ruscha aus Pappmaché geschaffenen und in der Mojave-Wüste versteckten Kunstfelsen namens „Rocky II“ zum Anlass nimmt, um grundlegenden wahrnehmungspsychologischen Fragen über den Sinn des Lebens nachzugehen. Während die Kamera einen Detektiv bei der Suche nach dem Artefakt begleitet, arbeiten zwei Hollywood-Drehbuchautoren auf einer parallelen Ebene an einem Krimi-Skript, das Mutmaßungen über die Gründe der Felsenaktion anstellt. Eine vergnügliche Charade über die menschliche Fähigkeit, Banales in geheimnisvollem Licht zu betrachten. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
WHERE IS ROCKY II?
Produktionsland
Frankreich/Deutschland/Belgien/Italien
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
The Ink Connection/Vandertastic Films/Frakas Prod./In Between Art Film/Vivo Film
Regie
Pierre Bismuth
Buch
Pierre Bismuth · D.V. DeVincentis · Anthony Peckham
Kamera
David Raedeker
Musik
Hugo Lippens
Schnitt
Thomas Doneux · Elise Pascal · Matyas Veress · Nicolas Bier · Léo Ghysels
Darsteller
Robert Knepper (Cal Joshua) · Milo Ventimiglia (Detektiv) · Richard Edson (Ted Simmons) · Roger Guenveur Smith (Museumsdirektor) · Barry O'Rourke (Lou)
Länge
93 Minuten
Kinostart
20.10.2016
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Mockumentary
Externe Links
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Hintersinnige Filmsuche nach einem künstlichen Felsen in der Mojave-Wüste

Diskussion
Vorsicht, Verwechslungsgefahr!, müsste man warnen, wäre die semantische Nähe zum berühmten Hollywood-Franchise nicht beabsichtigt. „Where is Rocky II?“, fragt der Titel von Pierre Bismuths eigentümlich zwischen Doku und Fiktion schwankendem Film. Gesucht wird nicht etwa eine Filmdose mit dem Negativ des zweiten Teils einer Boxer-Saga mit Sylvester Stallone (fd 20 250), sondern ein menschengemachter Felsen, der irgendwo im kalifornischen Teil der Mojave-Wüste versteckt ist. Aber wo steckt der Stein? Und: Soll das womöglich Kunst sein? Fest steht, dass ein weltbekannter Künstler für die Herstellung verantwortlich ist: Ed Ruscha, der berühmte Gemälde wie ein abstrahiertes 20th-Century-Fox-Logo („Large Trademark With Eight Spotlights“, 1962) schuf, fertigte 1979 einen Felsen aus Pappmaché und nannte ihn „Rocky“. „Rocky II“ entstand kurz darauf aus wetterfestem Polyester. Seither liegt das Imitat irgendwo in der Wüste, einer unter sehr vielen Felsen, die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen. Ruscha hat diese Ausgangslage übrigens bestätigt, wie ein Clip am Anfang belegt: Bismuth, der sich als Journalist in die Pressekonferenz des Künstlers geschmuggelt hat, fragt Ruscha: „Wo ist Rocky II?“ Der überrumpelte Künstler bejaht die Existenz des Fake-Felsens, doch wo er liegt und ob es sich wirklich um ein Kunstwerk handelt, darüber schweigt er. Ruschas Kataloge helfen dabei nicht weiter; keine der beiden „Rocky“-Versionen sind in den Werkverzeichnissen aufgeführt. Pierre Bismuth feiert als versatiler bildender Künstler selbst internationale Erfolge. Auch in der Filmwelt ist er kein Unbekannter, seitdem er mit Charlie Kaufman und Michel Gondry einen „Oscar“ für das Originaldrehbuch von „Vergiss mein nicht!“ (fd 36 491) gewann. Dessen ungeachtet hat sich Bismuth über Hollywood eher kritisch geäußert („90 Prozent aller kommerziellen Filme sind Propaganda“). So überrascht es nicht, dass „Where Is Rocky II?“ zwar Motive der Unterhaltungsindustrie behandelt, ohne jedoch selbst im Mainstream zu schwimmen. Enttäuscht werden zudem diejenigen, die auf eine klassische Künstler-Doku hoffen, denn Ed Ruschas Malerei, seine Zeichnungen und Fotoarbeiten, kommen praktisch nicht vor. Nicht einmal der Künstler selbst spielt im Film eine nennenswerte Rolle. Auch den titelgebenden Felsen bekommt der Zuschauer nicht zu Gesicht. „Rocky II“ ist der MacGuffin, jenes Requisit oder Motiv, das besonders in Hitchcock-Filmen immer wieder als inhaltsleerer Dreh- und Angelpunkt der Handlung diente. Man könnte auch an Rosebud, den Rodelschlitten aus Orson Welles’ „Citizen Kane“ (fd 10 261), oder die ominöse Daten-CD aus „Burn after Reading“ (fd 38 911) der Coen-Brüder denken. Dem Geheimnis um den falschen Felsen widmet sich Bismuth auf mehreren Ebenen. Wiederholt zeigt er Sequenzen, die aus einer historischen BBC-Dokumentation über Ruscha stammen; darin geht es um den Abtransport des Kunstfelsens. Bismuth knnüpft zwei Erzählstränge daran. Zunächst heuerte der Filmemacher einen Privatdetektiv an, um das Geheimnis des falschen Felsens zu lüften. Der Ex-Polizist Michael Scott befragt Größen der Kunstszene von Los Angeles, wobei sein Desinteresse an künstlerischen Belangen für eine komische Reibung sorgt. Der toughe Ermittler, der sonst in Sachen Mord oder Erpressung unterwegs ist, befragt hier die Crème des Kunstbusiness. Das passt nicht zusammen. Schließlich macht sich der Detektiv in die Wüste auf, verfolgt mehrere Spuren und lernt mit Jim Ganzer einen Freund und Künstlerkollegen von Ed Ruscha kennen. Die Kamera, die Scotts Ermittlungen dokumentiert, vergisst man bald. Obwohl Scott und auch sein Auftraggeber tatsächlich nicht wussten, was sie an der jeweils nächsten Wegkreuzung erwartete, tendieren die Szenen zur Spielfilm-Ästhetik. Bewusst gießt Bismuth sein Material in die Form einer Detektivgeschichte à la Bogart. Typischerweise verliert der Held solcher Filme sein Ziel aus den Augen, weil Chaos und menschliche Bosheit regieren. Das Ziel ist im aktuellen Fall das Aufspüren des gefälschten Findlings, während Bismuth die komplexere Frage nach dem Warum an Hollywood-Drehbuchautoren delegiert. Auch hier stellt der Regisseur die Konventionen auf den Kopf. Während sein Film ohne Drehbuch auskommt, implementiert er zwei reale Autoren in die „Handlung“. Diese schreiben ein Script, das nie verfilmt wird. Am Ende des Vexierspiels weiß man nicht mehr so genau, was in Filmen eigentlich „erfunden“ und was „wirklich“ sein soll. Der zweite, mit der Detektivstory abwechselnde Erzählstrang dokumentiert die Arbeit von D.V. DeVincentis („High Fidelity“) und Anthony Peckham („Invictus – Unbezwungen“), ein spannendes Script aus dem Stein des Anstoßes zu gewinnen. Auch hier wird gleichsam der Weg zum Ziel. Am Ende wird der Trailer zu einem Film präsentiert, der nie realisiert wurde, eine krude Story um einen Künstler, der seinen Mord vertuscht, indem er die Leiche in einem künstlichen Felsen versteckt. Die vorangehenden Drehbuch-Sitzungen der beiden Autoren sind dabei möglicherweise interessanter als das virtuelle Endprodukt. „Rocky II“ ist ein Essay über kreatives Denken. Für seine dialektische Vorgehensweise hat Bismuth sogar einen neuen Begriff geschaffen: „Doku-Fiction“. Die zugrundeliegende wahrnehmungspsychologische Verwirrung zwischen Wirklichkeit und Erfindung ist indes etwas zutiefst Menschliches. Die Suche nach „Rocky II“ spiegelt die Frage nach dem Sinn des Lebens – der in der Fähigkeit des Menschen liegen könnte, das Banale in geheimnisvollem Licht zu betrachten. Fiktion ist unsere Rettung. Wenn es keine Geschichten gäbe, wären wir voll und ganz dem sterbenslangweiligen bis unerträglichen Alltag ausgesetzt.
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