© Warner (aus "Inception")

Das Jahrzehnt der offenen Fragen

Eine Bilanz der Kinodekade 2010-2019

Veröffentlicht am
23. Januar 2020
Diskussion

Was hat das Kino der 2010er-Jahre geprägt? Statt von Innovationen, neuen Themen und neu in den Vordergrund drängenden Kino-Ländern muss man vielleicht eher von fehlender Experimentierfreude und einem Trend zur Formatierung sprechen, zumindest im US-Kino. Freilich gab es aber doch einzelne Filmemacher, denen in den letzten zehn Jahren Meilensteine der Filmgeschichte gelangen. Und das französische Kino als verlässlichen Jungbrunnen der Filmkunst.

Wenn man versucht, eine Bilanz des gerade beendeten Film-Jahrzehnts zu ziehen, stellen sich vor allem Fragen. Antworten gibt es nicht immer. Das muss auch gar nicht schlecht sein; eine solche Reflexion kann nur subjektiv sein und sollte eher dazu provozieren, Gegenthesen zu entwickeln, oder quer dazu ganz neue Standpunkte.

Ein Ziel muss sein, für das Kino Kategorien zu entwickeln, in denen wir weiterdenken oder überhaupt denken können.

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Bezogen auf die letzte Dekade ist die erste dieser Kategorien die Finanzkrise.

Finanzkrise & die Folgen

Oberflächlich betrachtet hat die Finanzkrise im Kino, seit sie vor bald zwölf Jahren, im Sommer 2008, begann, kaum Spuren hinterlassen, außer ein paar erwartbar kritischen Dokus und „Börsenfilmen“, die im Investmenthändler den aktuellen Schurken des Zeitalters entdeckten – auch keine ganz neue Idee. Nur Martin Scorseses The Wolf of Wall Street gelang es, mit dieser Figur auch die Hysterie und den Wahnsinn eines Zeitalters oder zumindest eines Milieus auf die Leinwand zu bringen.

Wichtiger an der Finanzkrise als filmisches Thema sind aber ihre langfristigen Folgen. Fehlt durch sie dem Kino Geld? Fehlen womöglich durch die Finanzkrise dem Kino genau die entscheidenden Prozentanteile, die zum Spielen, zum Experimentieren und Ausprobieren und damit für Innovation nötig sind? Manchem Offensichtlichen zum Trotz erscheinen die 2010er-Jahre als ein Jahrzehnt des Kinostillstands. Es gab gute und wichtige Filme (s.u.), aber es gab nichts, was das Kino tatsächlich und grundsätzlich verändert hätte.

Nicht formal: es gab keine neue „Dogma“-Bewegung, keinen Neo-Realismus wie den rumänischen der 2000er-Jahre, keine neue Generation des Independent-Kinos, keine „neue Welle“ in irgendeinem Teil der Welt, wie in den 1980er-, 1990er- und 2000er-Jahren vor allem in Taiwan, Hongkong, Argentinien und Korea. Nicht in Form von Geschichten, Figuren und Genres: Kein altes Genre boomte in den Zehnern plötzlich neu, der dystopisch gewordene Science-Fiction wurde auch nicht wieder utopisch – ein Meisterwerk wie Christopher Nolans „Interstellar“ ist auch in dieser Hinsicht eine große Ausnahme. Am ehesten kann man vielleicht von einer Renaissance des Zombie-Genres sprechen, im Fahrwasser der seit 2010 laufenden Serie „The Walking Dead“. Das Interesse an den Marginalisierten ist nicht weniger, aber auch nicht mehr geworden, und falls im Kino tatsächlich heute mehr Frauen im Zentrum stehen sollten, müsste man zugeben, dass es diesen Trend im Fernsehen bereits seit den 1980er-Jahren gibt – und doch wäre eine daraus abgeleitete These von der „Televisionierung des Kinos“ bloße Behauptung.

Eine spannende Frischzellenkur fürs SciFi-Kino: "Interstellar"
Eine spannende Frischzellenkur fürs SciFi-Kino: "Interstellar"

Controller und das Regime der Mikroökonomie

Eher gab es Konsolidierung. Als ob die Entscheider ihr Geld zunehmend zusammenhalten müssten. Als ob sie unbedingt auf Nummer Sicher gehen müssten. Die Folge davon ist das ständige Wiederholen und Wiederaufwärmen alter bewährter Rezepte. Der Remake-Boom – den es allerdings weniger sichtbar auch schon immer gab: wer weiß schon, dass Klassiker wie „Ben Hur“ (1959) oder „Der Dieb von Bagdad“ (1940) Remakes waren, dass sogar Autorenfilmer wie zum Beispiel Alfred Hitchcock, Fritz Lang oder Michael Haneke Remakes eigener Werke drehten – ist die eine Folge, die „Sequelitis“ eine andere. Noch nie hat es derart viele Sequels und Prequels von Erfolgsfilmen gegeben, die aus den Franchise-„Universen“ outgesourcten Parallelgeschichten und Einzelstorys gar nicht erst mitgerechnet.

Überhaupt die Entscheider. Es sind zunehmend die Controller und deren kunstferne Kriterien aus ökonomischer Effizienz, Finanzrendite und Börsenwertorientierung, die die Unternehmen im eisernen Griff halten. Komplett fantasiebefreite No-Nonsense-Nüchternheit ist das Mindeste, was dadurch bewirkt wird. Wo Leute den Ton angeben, die anstatt Filmen auch Autoreifen oder Würste verkaufen könnten, ist Film eine Ware unter anderen, keine Kunst mehr. Nach Ansicht vieler ist das auf lange Sicht sogar ökonomisch fatal: Denn wie in anderen Branchen wird auch im Kino das perspektivische makroökonomische Denken durch betriebswirtschaftlich orientierte Kurzatmigkeit ersetzt, die nur auf die nächste Vierteljahresbilanz schielt, und Projekte einstellt, Kampagnen stoppt, Experimente scheut, um nur ja die „schwarze Null“ zu retten. So kann keine Innovation entstehen – soll sie auch nicht, denn Innovation bedeutet Risiko.

3-D hat sich hier trotz einzelner Erfolge längst als teurer und unpraktikabler Flop erwiesen. Zwar hatte das Jahrzehnt mit James Camerons „Avatar“ begonnen, doch schon bald setzte sich hier die Schwarm-Macht des fernbleibenden Publikums gegen die Techno-Propaganda der Überwältigung durch diesen einen Film durch.

Der 3D-Hype, der Ende 2009 mit "Avatar" losgetreten wurde, schwächte sich im Lauf der 2010-Jahre deutlich ab
Der 3D-Hype, der Ende 2009 mit "Avatar" losgetreten wurde, schwächte sich im Lauf der 2010-Jahre deutlich ab

Der Siegeszug der Formatierung

Formatierung ist stattdessen die zentrale Folge der genannten Entwicklungen. Es scheint unverkennbar, dass Filme immer deutlicher in eine ganz bestimmte „Box“ passen, in einem Satz ohne Nebensatz erklärbar sein müssen – der berühmte „Elevator-Pitch“, wenn das Gebäude nur drei Stockwerke hat –, ein definiertes Erwartungssegment bedienen sollen und damit auch eine präzise Publikumsgruppe. So funktioniert der moderne Kapitalismus. Was mit dieser fortschreitenden Entwicklung verschwindet, ist eine in früheren Jahrzehnten allgemein übliche Spielfilm-Form: Die Genremischung. Ein Thriller von Hitchcock war Spannungskino, war auch Action, war zugleich aber Komödie und oft genug noch ein romantischer Liebesfilm. Einstige Welterfolge wie „Charade“ oder „Arabeske“ vom 2019 verstorbenen Stanley Donen verbanden Heiterkeit mit Nervenkitzel, Berührt-sein mit Schock. Das waren Filme „für die ganze Familie“. Am ehesten sind das heute noch alle paar Jahre James-Bond-Filme, die übrigens großartigen Action-Werke des „Mission-Impossible“-Franchise und „Star Wars“. Der Rest ist zu eng formatiert, und diese Ausdifferenzierung spiegelt nur die Individualisierung des Filmkonsums – jeder vor seinem eigenen Bildschirm – in der von Soziologen längst konstatierten „Gesellschaft der Singularitäten“.

Kinosituation

So hat denn auch die Digitalisierung der Kinos und der Verleihkopien, die auf die der Aufnahmetechnik folgte und sich im letzten Jahrzehnt nicht zuletzt mithilfe massiver staatlicher, aus den Kulturetats bezahlter Subventionen auch in Europa durchgesetzt hat, keineswegs die erhoffte Ausdifferenzierung des Angebots gebracht, sondern ihr Gegenteil: Monopolisierung. Massive großflächige Einsätze ein und desselben Films und die Kontrolle der Kinos durch die Verleiher sind ebenso erleichtert worden wie der schnelle Vorführungsstopp im Fall eines Misserfolgs. „Kleine“ und unabhängige Filme haben es in der Folge schwerer, genau wie unabhängige Kinobetreiber. Die Geschichte der Digitalisierung ist eine Kinovernichtungsgeschichte. Das Discounter- und Supermarktprinzip hat das Kino übernommen, der klassische Einzelhandel des „Kinos um die Ecke“ droht zu verschwinden. Und der, um im Bild zu bleiben, Boom der filmischen Bioläden, also der Qualitätskinos mit Exklusivangeboten, ist vorläufig noch eine nur schwach glimmende Hoffnung für das Medium Kino.

Wer nun aber dem Kino wieder einmal einen apokalyptischen Schwanengesang bieten möchte, kommt zu früh. Die Behauptung vom Ende des Kinos hat dieses Medium spätestens seit der Einführung des Tonfilms begleitet und wurde immer widerlegt. Das Kino bleibt trotz allem der Abspielort Nummer 1 für Filme. Man sieht es an den Begehrlichkeiten der neuen Streaming-Dienste, deren Aufstieg zum „Big Player“ die bedeutendste Auswertungs-Innovation der letzten Dekaden darstellt. Doch Streaming ergänzt die Kinoauswertung, es ersetzt sie nicht. Nicht Spielfilme, sondern Serien sind das eigentliche Kapital der Streaming-Dienste. Ihre wichtigste Auswirkung für das Kino liegt darin, dass sie diesem Know-how und Personal entziehen. Einige bedeutende Filmemacher, zum Beispiel David Fincher ("Mindhunter"), drehten in den 2010er-Jahren vor allem Serien. Für andere – zuletzt Martin Scorsese – waren Streaming-Dienste aber die Rettung im Kampf um die immer knapper werdenden Finanzressourcen.

Locken Filmemacher vom Kino zu Serienformaten: Serien wie "Mindhunter"
Locken Filmemacher vom Kino zu Serienformaten: Serien wie "Mindhunter"

Einfluss der Serien?

Was sind die stilistischen, ästhetischen Folgen des Serienbooms und der neuen Macht der kleinen Bildschirme? Die These, dass das Kino der Zukunft in den Serien stattfindet, stammt schon aus den 2000er-Jahren, als Formate wie „Mad Men“ (ab 2007) und „Breaking Bad“ (ab 2008) von sich reden machten. Aber stimmt sie? Serien können sehr gut sein, keine Frage. Aber die visuelle Kraft des Kinos erreichen sie selten, und auch in ihrer Dramaturgie ähneln sie viel mehr einer Fortsetzung des Romans mit anderen Mitteln. Inzwischen aber haben Serien eine ganz eigene Dramaturgie ausgeprägt, die die Atemlosigkeit der Angst vor Zuschauerverlust mit der Verschachtelung mehrerer erzählerischer Bögen und mehrerer Figuren (Identifikationstrigger) verbindet. Auf Dauer kann das auch ermüden, und die wenigsten Serien halten die Spannung des Anfangs über längere Zeiträume. Die Zuschauer allerdings lassen sich zurzeit sehr gern zum Serienschauen verführen, und das zieht dem Kino wie dem klassischen Fernsehen Publikum ab. Zugleich aber könnte das Binge-Watching, das sich in den 2010ern durch Serien als neue Form des Freizeitverhaltens etabliert hat, mittelfristig auch dem Kino zugutekommen: Es gibt eine neue Offenheit für längere Formate.

Wenn die visuelle Kraft des Kinos selbst in andere Formen ausgewandert sein sollte, dann findet es aber heute eher in Musikvideos statt. Zumindest in manchen. Der Independent-Film „Queen & Slim“, der als „schwarzer Bonnie & Clyde“ in den USA zu dem Überraschungserfolg der Saison wurde, konnte nur die überraschen, die die Videos, die Regisseurin Melina Matsoukas für Rihanna und Beyoncé gedreht hat, nicht kannten. Und auch viele Videos der Lana-del-Rey-Songs sind bildlich komplexer, überraschender und vor allem poetischer, als viele Hollywood-Filme.

Das Beharren Hollywoods

Erstaunlich an den 2010er-Jahren ist das Beharren Hollywoods. Alles in allem. Konnte man 2010 noch glauben, dass die kleineren Kinoländer und die großen neuen Märkte vor allem in Asien das Gesicht des Kinos verändern würden, so ist von diesen Träumen wenig übriggeblieben. Am ehesten zeigen sich allmähliche Marktverschiebungen am Boom der Comic-Verfilmungen, an der Marktmacht der Universen von Disney (Marvel, „Star Wars“). Aber ästhetische Innovation kommt in Amerika nicht von dort. Auch nicht von einem so gelungenen, weil exzessiven, aber doch mainstreamigen Unterhaltungswerk wie Mad Max: Fury Road, der gerade in den USA von vielen US-Magazinen zum „besten Film des Jahrzehnts“ ernannt wurde.

Sondern von den wenigen Autorenfilmern, die in aller Formatierung ihre eigene Handschrift zu bewahren vermögen. Neben einigen wenigen Altmeistern wie Martin Scorsese, Woody Allen oder David Cronenberg, Nachzüglern wie den Coen-Brüdern oder James Gray und Außenseitern wie Tom Ford oder James Toback, die unverdrossen, wenn auch oft etwas langsamer, ihre neuen Filme drehen, und einem Solitär wie Terrence Malick, der seit „Tree of Life“ fast ein eigenes Genre ausgebildet hat, waren das vor allem vier Regisseure, nicht zufällig alles Filmemacher, die zumindest versuchen, mit analogem Material auch ästhetisch der Digitalisierung zu trotzen: Quentin Tarantino, der seine ganz eigene Form der Americana ausgeprägt hat. Denis Villeneuve, der seine Autorenfilmer-Haltung auch in Großproduktionen wie Blade Runner 2049 bewahren konnte und dem System gleichzeitig so ein lyrisches, tastendes Meisterwerk wie Arrival und einen geerdeten, ernsten Polizeithriller in B-Movie-Gewand wie Sicario abtrotzte. Vor allem aber Christopher Nolan, der mit Abstand innovativste unter den Hollywood-Regisseuren – der als Brite in Hollywoods A-Liga gewissermaßen die Nachfolge von Ridley Scott antritt und ähnlich wie dieser am laufenden Band ikonische Kinofilme inszeniert. Fürs System sind seine Batman-Filme zentral. Doch für die Filmgeschichte sind der virtuose Cyberthriller „Inception“, der Weltraumzeitreise-Film „Interstellar“ und der Kriegsfilm „Dunkirk“ jede auf ihre Art Meilensteine und zugleich unverwechselbare Nolan-Filme.

Denis Villeneuves "Blade Runner 2049"
Denis Villeneuves "Blade Runner 2049"

Der vierte dieser Gruppe ist ein Neuling und zugleich der einzige echte Independent: Brady Corbet, der sich mit nur zwei überaus eigensinnigen, unbedingt für die große Leinwand gedrehten Filmen „Childhood of a Leader“ und „Vox Lux seit 2015 in die kleine Gruppe der echten amerikanischen Autorenfilmer einschrieb.

Durch diese wenigen Namen kommt die Kino-Innovation dann plötzlich doch aus den USA.

Der Nichtaufstieg Asiens

Aus Asien kommt sie jedenfalls nicht. Waren die 2000er-Jahre noch von vielen neuen, unbekannten Namen und zahlreichen ästhetischen Highlights, von einer stillen Kinorevolution aus China, Japan und Korea geprägt, so sind es zehn Jahre später genau dieselben Namen, die den Ton angeben und mit guten Filmen immer noch vereinzelte Festival- und Publikumstriumphe feiern: Naomi Kawase, Hirokazu Kore-eda, Sono Sion, Bong Joon-ho, Park Chan-wook, Jia Zhang-ke und Lou Ye. Ein paar bekannte Regisseure drehen dagegen kaum noch, wie Wong Kar-wai und Kim Ki-duk, ein Zhang Yimou dagegen kommt mit seinem neuen Film überraschend stark zurück. Aber es fehlt der Nachwuchs. Wo sind die Jungen? Gibt es sie nicht, oder drehen sie alle nur noch Serien? Oder geben die Festivals in den letzten Jahren ihre frühere Rolle als Entdecker neuer Kinotalente auf?

Letzteres könnte man manchmal glauben, wenn man bemerkt, wie auch in Cannes, Berlin oder Venedig der Typus des „Festivalfilms“ zunehmend Platz einnimmt, Filme also, die kaum für ein klassisches Autorenfilm-Publikum gemacht sind, von breiten Schichten ganz abgesehen. Filme, die auf Plots, klassische Narration und auf Stars, auch auf zukünftige, weitgehend verzichten, die ihre Geschichten in beobachtender dokumentarischer Sprache mit Laien erzählen oder sich ganz und gar Stilformen des Experimentalfilms verschreiben. Gezeigt werden sie nur noch auf Festivals, in Galerien und zu später Stunde im Fernsehen als preiswerter Programmfüller. Auch das ist eine Form der Formatierung.

Der Jungbrunnen: das französische Kino

Derartige melancholische Gedanken widerlegt allemal die Lebendigkeit der französischen Kinoindustrie. Das französische Kino ist der Jungbrunnen und Vielfaltsbrunnen des Kinos. Auch dort gibt es zwar Formatierungstendenzen, und die neuesten Entwicklungen der Filmfördergesetze geben Anlass zur Befürchtung, dass auch bei den Franzosen irgendwann die Mikroökonomen die Film-Herrschaft übernehmen könnten. Aber noch ist es noch lange nicht so weit.

In den 2010er-Jahren kamen aus Frankreich mainstreamige Komödien, die auch im Ausland Erfolge feierten. Zugleich aber gibt es französisches Genrekino – etwa neue Polizeifilme, die in Deutschland nur im Fernsehen gezeigt und daher von der deutschen Filmkritik kaum bemerkt wurden, sich aber gut in andere Teile der Welt verkauften. Stellvertretend seien hier die Regisseure Fred Cavayé und Julien Leclercq genannt. Klar in der Tradition des Nouvelle-Vague-Autorenkinos verankert sind die Regisseure Arnaud Desplechin und Philippe Garrel. Es gibt Regisseure mittleren Alters, wie François Ozon, den größten Virtuosen des europäischen Kinos, der auch in den 2010er-Jahren sieben Filme drehte und für eine knallige Komödie („Potiche“) genauso gut ist wie für einen ernsten Film über Missbrauch („Grâce à Dieu“). Kaum weniger variabel und überraschend ist Olivier Assayas, der auch mit jedem Film versucht, das Kino neu zu erfinden.

Augenöffner: "Nocturama" von Bertrand Bonello
Augenöffner: "Nocturama" von Bertrand Bonello

Die eigentlichen Erneuerungen und enorm eigenwillige Filme kamen aber von jüngeren Filmemachern. Bertrand Bonello katapultierte sich mit vier jeweils grundverschiedenen, außerordentlich eigenwilligen, poetischen, das Visuelle in den Vordergrund stellenden Werken – „L’Apollonide“, „Saint Laurent“, „Nocturama“, „Zombi Child“ – in die vorderste Reihe der französischen Filmemacher. Noch wichtiger aber sind mehrere Regisseurinnen, die in den Fußstapfen von Agnès Varda und der weiterhin großartig eigenwilligen Claire Denis die einstige Männerdomäne des französischen Kinos verweiblichen: Céline Sciamma und Rebecca Zlotowski drehten in den 2010er-Jahren drei beziehungsweise vier Filme, dazu kommen Katell Quillévéré, Léa Mysius und zuletzt Mati Diop, deren Debüt sofort im Wettbewerb von Cannes den zweitwichtigsten Preis gewann. Alle diese Filme sind poetisch, modern und unbedingt zeitgemäß, aber nie inhaltistisch, sondern am bildnerischen Erzählen orientiert. Die Rettung der Kino-Innovation kommt einmal mehr aus Frankreich.

Das belegt sogar der fast 90-jährige Jean-Luc Godard, einer der ältesten aktiven Regisseure – und zugleich im Geiste einer der jüngsten: Mit „Film socialisme“, „Adieu au langage“ und „Le Livre d’Image“ untersuchte er in unverwechselbaren, neugierigen und virtuosen Filmessays den Stand der Dinge auf den Feldern Politik, Sprache und Bildgedächtnis. Godards Filme verweigern sich seit eh und je einfacher Konsumierbarkeit. Aber sie sind ein untrennbarer, jederzeit akzeptierter und gefeierter Bestandteil der französischen Kinokultur und des Kinodiskurses.

Godard, die mittelalten Männer und die jungen Frauen – so wird sich das Kino Europas und der Welt auch in den 2020er-Jahren gegen alle Herausforderungen behaupten. Man darf gespannt sein, welche dieser Filmemacher auch in zehn Jahren bei einer neuen Bilanz eine Rolle spielen.


Fotos: Warner, Fox, Netflix, Sony, Real Fiction

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