Politische Cinephilie (II): (Not) Looking for Freedom
Dienstag,
08.09.2020
Im zweiten Teil seiner Essay-Reihe „Politische Cinephilie“ forscht Till Kadritzke dem Verhältnis von Selbstfindung und den gesellschaftlichen Umständen im narrativen Film nach
Während die einen zu Schmetterlingen werden, kämpfen die anderen ums
Überleben. Im zweiten Teil seiner Essay-Reihe „Politische Cinephilie“
beschäftigt sich Till Kadritzke kritisch mit dem Imperativ der
Selbstfindung im narrativen Film seit der New-Hollywood-Ära und sucht nach
Alternativen – wobei er auch im Kino der 1970er-Jahre fündig wird.
Als ich ein zweites Mal Leonie Krippendorffs schönen Coming-of-Age-Film „Kokon“
im Kino sehe, muss ich, wann immer Rabenmutter Vivienne die Szene betritt, an
Wanda denken, die Protagonistin aus Barbara Lodens gleichnamigem Film
von 1970. Der assoziative Sprung vom gegenwärtigen Kotti in Berlin (der Gegend
um den U-Bahnhof Kottbusser Tor in Kreuzberg) zum US-Nirgendwo vor einem halben
Jahrhundert hat mit einem kleinen Vorbehalt gegenüber „Kokon“ zu tun, und
dieser Vorbehalt wiederum mit dem Thema dieser Essayreihe: dem Verhältnis
zwischen der Feier des Kinos einerseits – als einem Raum der Affekte, der
ungeahnten Möglichkeiten, des Exzesses – und dem sogenannten Politischen
andererseits, der Nachbarin, die bei dieser Feier irgendwann dann doch mal
klingelt und das Kino dran erinnert, dass es nicht allein ist auf der Welt.
Aber erstmal feiern, dann beschweren. „Kokon“ ist ein toller Sommerfilm,
ein toller Berlin-Film, ein toller Film über weibliches Erwachsenwerden, über
Schwesternschaft, Freundschaft, über erste Lieben und erste Enttäuschungen. Es
ist ein Film über Selbstfindung. Wer sich selbst findet, ist Nora, zarte 14
Jahre alt, unter die Fittiche genommen von ihrer größeren Schwester Jule, aber
unter diesen Fittichen auch ganz schön viel aushaltend. In ihrem mit Jule
geteilten Zimmer hält sich Nora dafür wunderhübsche Raupen, und schon der Filmtitel
verspricht: Wo Raupe war, wird Schmetterling sein, und aus jedem unscheinbaren
Mädchen kann ein Einhorn werden. Als solches verkleidet geht Nora irgendwann
auf die große Party, im Kopf nur die zwei Jahre ältere Romy, die eine dröge
Schulaufgabe in eine Videoinstallation mit Performance zu David Bowies „Space
Oddity“ verwandelt hat. Ab dann war es endgültig um Nora geschehen.
Wer sich hier aber nicht selbst findet, oder vielleicht schon mal gefunden,
aber wieder verloren hat, ist Noras Mutter Vivienne. Die säuft in der Kneipe,
bis ihre beiden Töchter im Nachthemd hereinkommen, weil sie Hunger haben. Sie
wacht an ihrem Geburtstag verkatert auf und hat keinen Nerv auf das Frühstück,
das die Mädchen liebevoll für sie vorbereitet haben. Sie kümmert sich nur spaßeshalber
um die Baby-Puppe, die Tochter Jule aus der Schule mitbringt, um Mutterschaft
zu üben. Während Jule und ihre Clique zunehmend zwar auch zur Reibungsfläche
für Noras Selbstfindung werden, dabei aber trotzdem bei sich bleiben können,
steckt Vivienne eigentümlich in ihrer Rabenmutter-Funktion fest. Der Film
urteilt nicht über sie, dafür ist er zu klug. Und natürlich sollten Erwachsene
in Coming-of-Age-Filmen keine Rolle spielen. Vivienne aber spielt eine, nur
eben keine eigene. Der Film nutzt sie, fragt sich aber nicht so richtig, wer
sie ist und was sie will. Will sie überhaupt etwas?
Teil I: Der Fall Wanda
„Wanda beweist uns einmal mehr, dass Mensch zu sein heißt, etwas zu wollen,
und dass lebendig zu sein heißt, in Bewegung zu sein. Wanda ist das nicht.
Deshalb spielt sie keine Rolle.“ So sprach der Kritiker Winfried Blevins 50
Jahre zuvor im „Los Angeles Herald Examiner“sein Urteil übe
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