Die französische Schauspielerin Isabelle Huppert entzieht sich der Beschreibung. Ihre enorme Präsenz auf der Leinwand wie auf der Bühne stürzt das Publikum regelmäßig in bedrohliche Turbulenzen. Sie spielt „gewinnende Opfer“, die auf der Verliererseite stehen, aber ein Ventil finden, sei es in der Fantasie, der Gewalt, Sexualität oder dem Schauspiel. Dabei ist sie leise, unsentimental. Sie wartet auf die Kamera, anstatt sie anzuspringen. Annäherungen an eine Unnahbare.
Isabelle Huppert ist nicht zu fassen. Die altbewährten Floskeln und Formulierungen, mit denen man sich in Texten an große Schauspielerinnen annähern kann, greifen bei ihr ins Leere. Im Schaffen der 67-jährigen Künstlerin finden sich rote Fäden, aber manche sind gelb, grün oder blau. Manchmal ist sie kaum da, duckt sich förmlich vor der Kamera, ehe sie mit einem nie gesehenen Lächeln oder einem plötzlichen Ausbruch wieder eine neue Facette preisgibt.
Dabei wurden schon viele Versuche unternommen, Isabelle Huppert als „Auteur“ zu verstehen. Schließlich ist sie eine Schauspielerin, die nicht wie in Hollywood von Studios und Managern bis zur Wahl ihrer Socken fremdbestimmt wird, sondern die ihre Stoffe selbst wählt. Kinematheken wie das Eye Filminstitut in den Niederlanden widmeten ihr große Retrospektiven, und zahlreiche Texte ranken sich um wiederkehrende Elemente der Personen (sie lehnt das Wort „Charakter“ ab), die sie spielt.
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Von einer feinen Linie zwischen Banalität und Wahnsinn ist da etwa die Rede. Betrachtet man ihre berühmtesten Rollen wie jene in „Die Klavierspielerin“ von Michael Haneke oder in „Biester“ von Claude Chabrol, kann man die von Regisseuren wie Godard bereits Ende der 1970er-Jahre in den französischen Kinoolymp gehobene Darstellerin sicherlich auf einer solchen Linie verorten. In ihrem Gesicht oder besser: ihren Gesichtern lässt sie meisterhaft die Abgründe und Ausbrüche aufblitzen, die einen Menschen über die Kante stoßen können. In ihrem Blick geht es selten um emotionale Identifikation. Stattdessen zählt deren Abwesenheit, wenn die Schauspielerin sich ganz sanft um das windet, was man als menschlich wahrnehmen würde. Das Verborgene bekommt bei ihr eine Seele.
Im Kino begegnet man dem Fremden
Als Zuschauer wird man von dieser Präsenz beunruhigt. Man denke beispielsweise an die ersten Minuten in „Amateur“ von Hal Hartley, in denen Huppert in einem Café laut an einer pornografischen Geschichte schreibt. Das rebellische Verhalten der Frau löst sofort Sympathien aus, aber etwas an ihr wirkt unnahbar und weit entfernt. Es lässt sich nicht hundertprozentig sagen, ob diese Frau schüchtern, arrogant, ignorant oder einfühlsam ist. Mit Huppert lernt man, dass es im Kino nicht darum geht, sich selbst auf der Leinwand zu begegnen, sondern dem Fremden.
„Amateur“ verweist auch auf eine weitere Linie, auf der sich Isabelle Huppert in einigen Filmen bewegt: jene zwischen dem Frommen und Verdorbenen. Die von ihr dargestellte Person schreibt nämlich nicht nur pornografische Geschichten, sondern sie ist zugleich eine ehemalige Nonne. Wem die Liaison von Heiliger und Hure zu sehr in jene von Männern erdachten Fantasien der Kinogeschichte passt, verpasst viele der rebellischsten und emanzipiertesten Figuren des modernen Kinos. Es gibt eigentlich keine Frau, die Huppert spielte, die in sich nicht ein wenn auch kleines Stückchen Freiheit bewahrt. Sei es die Freiheit der Lust, der Perversion, der Gewalt, der Liebe oder einer Fahrt auf einem Motorrad wie in „White Material“ von Claire Denis. Huppert gab selbst einmal preis, dass sie bewusst nur Filme auswähle, in denen die Frau nicht abhängig vom Mann sei.
Huppert balanciert auf
einigen solcher Linien, ohne sich je für eine Seite zu entscheiden. Zu nennen
wäre auch jene zwischen Kühle und Ausbruch oder jene zwischen Zerbrechlichkeit
und Kraft. Insbesondere in ihren jüngeren Filmen wie „Elle“ von
Paul Verhoeven oder „Alles was kommt“ von Mia Hansen-Løve erzählt
Huppert viel über ihre Körperlichkeit. Die Sommersprossen, die bereits in
jungen Jahren zu einem Markenzeichen wurden, halten sich verblasst auf der Haut
eines Körpers, der keine Angst vor dem Altern hat. Die dünnen Arme, die etwas
fahlen, aber doch leuchtenden blauen Augen und der stakkato-artige Gang
scheinen unendlich variierbar. Manchmal wirkt es so, als könne Huppert für jede
ihrer vielen Rollen eine neue Falte auf ihrem Gesicht finden. Dabei ist sie
leise. Es gibt kaum „große“ Szenen oder gar Gefühlsausbrüche, nichts liegt ihr
ferner als Sentimentalismus. Man sieht sie auch nicht in außergewöhnlichen
Kostümen oder mit wilden Frisuren. Sie wartet auf die Kamera, statt sie
anzuspringen.
Varianten ihrer selbst
Die Französin gilt als Vielarbeiterin; vier bis fünf Filme dreht sie pro Jahr, dazu spielt sie im Theater. In ihren Filmen nutzt sie inzwischen oft das Image des Workaholics, der einsamen und harten Frau. Manchmal spielt sie tatsächlich Varianten ihrer selbst, etwa in „Marvin“ von Anne Fontaine oder auch nur Figuren, die sie selbst sein könnte, wie in „Frankie“ von Ira Sachs. Dass sie in ihrer Karriere mit Filmemachern wie Maurice Pialat, Jean-Luc Godard, Michael Haneke oder in einer ihrer zärtlichsten und verlorensten Rollen als auf einen oder mehrere oder auch keinen Liebhaber wartende Französin an der südkoreanischen Küste in „In another country“ mit Hong Sang-soo arbeitete, macht sie auch in der Filmkunstszene zu einem Star.
Man könnte sie als eine Art Grundelement des Arthouse-Kinos verstehen, und man fragt sich tatsächlich, wann sie selbst einmal Regie führt, obwohl man manchmal das Gefühl hat, dass sie das bereits tut. Wahrscheinlich ist Isabelle Huppert eine der wenigen verbliebenen Schauspielerinnen, die das Kino in seinen umfänglichen Wirkungsweisen zu bedienen wissen: als Star, als Geheimnis, als Arbeiterin, als Kunstfigur, als Person.
Da überrascht es auch kaum, dass sie auch in Hollywood-Filmen wie „Dead Man Down“ oder sogar in einer Folge der Serie „Law & Order: New York“ auftaucht. Dort spielt sie eine Mutter, die aufgrund der schlechten Beziehung zu ihrem Sohn verdächtigt wird, an dessen Entführung beteiligt zu sein. Ihre Rechtfertigungen hangeln sich entlang einer kaum durchschaubaren Ambivalenz und greifen die unglücklichen Mütter auf, die Huppert in ihrer Karriere spielte. Dabei sticht neben der sich um Isolation bemühenden Mutter in Ursula Meiers „Home“ der bemerkenswerte „La comédie de l'innocence“ von Raúl Ruiz heraus. Darin spielt sie die Mutter eines Jungen, der von einer anderen Frau verwirrt wird, die behauptet, seine eigentliche Mutter zu sein. Da die Figur von Huppert lange Zeit unfähig ist, ihre Zuneigung zu zeigen, droht sie ihr Kind zu verlieren. Unter den Bildern formiert sich ein existenzialistisches Rätsel, in dem das Fehlen von Liebe zum Puzzlestück wird und sich alles in jener unerträglichen Ambivalenz aufhält, die Huppert so auszeichnet.
Dass sie nur ein Jahr nach dieser Rolle der scheiternden Mutter als von ihrer Mutter abhängige Tochter in Hanekes „Die Klavierspielerin“ (2001) spielte, zeigt, wie schwer Huppert tatsächlich zu fassen ist. Mit Haneke, dessen kalkulierte Präzision viel mit Huppert gemeinsam zu haben scheint, drehte sie auch „Happy End“, „Liebe“ und „Wolfzeit“. Haneke & Huppert stellen dem bürgerlichen Umfeld ihrer porträtierten Welten einen Abgrund entgegen. Sadismus und Leiden, Ignoranz und Abhängigkeit werden in den Filmen und Figuren von Huppert entlarvt. Der starre Blick am Ende von „Die Klavierspielerin“ erschüttert und hallt wie wenige Nahaufnahmen der Filmgeschichte nach. Wäre Hupperts Kino mit Haneke ein Geräusch, würde man ein unangenehmes Kratzen hören. Eines, das einen nicht loslässt.
Innige Zusammenarbeit mit Claude Chabrol
Langjährige Kollaborationen mit Regisseuren sind Isabelle Huppert ohnehin wichtig. Vor allem mit Claude Chabrol verband sie eine innige Zusammenarbeit. Als Elternmörderin, am Leben verzweifelnde Postbeamtin oder kleinliche Schokoladenfabrikantin besetzte sie der oftmals unterschätze Nouvelle-Vague-Vertreter und große Autor wahrhaftiger Anti-Helden. Nicht umsonst besetzte er Huppert auch als Madame Bovary. Der Film mag mit seinem fehlenden Interesse an den konkreten Umständen des Lebens etwas scheitern, aber die Darbietung der freiheitssuchenden Ehefrau gehört zu den stärksten im Oeuvre von Huppert.
Sie selbst hatte die Gemeinsamkeit der von ihr verkörperten Personen einmal als „gewinnende Opfer“ umschrieben. Es gehe ihr um jene Menschen, die überleben, obwohl sie verlieren, jene Menschen, die in einer bestimmten politischen oder geschichtlichen Situation eigentlich auf der Verliererseite stehen. Die Ausgenutzten, Abhängigen, Verlorenen, aber auch jene, die ein Ventil finden, sei es in der Fantasie, der Gewalt, der Sexualität oder wie Huppert selbst im Schauspiel.
Hupperts Performances erwecken den Gedanken, dass das Schauspiel womöglich doch eine Form der Schizophrenie darstellt. Sie ist nicht nur mehrere Personen, sie verschwindet auch vor den Augen der Betrachter und taucht an völlig unerwarteten Stellen wieder auf. Kein Wunder, dass der das Kino liebende Serge Bozon sie nach seinem überdrehten Krimifest „Tip Top“ auch in seiner eigenwilligen Stevenson-Adaption „Madame Hyde“ besetzte. In der Rolle der vom Blitz getroffenen Physiklehrerin beweist Huppert einmal mehr, dass sie die große Schauspielerin der Brüche innerhalb von Figuren ist, aber auch, dass sie die Komödie beherrscht wie kaum eine Zweite. In an Deadpan-Komödien erinnernder Ausdruckslosigkeit begegnet sie dem eigentlichen Wahnsinn des übernatürlichen Films. Huppert beherrscht den stillen Irrsinn der kurzen Blicke und Pausen, die unaufdringliche Komik der gut gesetzten Geste wie ganz zu Beginn ihrer Karriere, wenn sie als 16-jähriges Mädchen die anarchischen Spielereien der Störenfriede Gérard Depardieu und Patrick Dewaere in „Die Ausgebufften“ mit einem Lächeln gutheißt.
Von diesen beiden Machos des Post-Nouvelle-Vague-Kinos in einer der ersten Rollen entjungfert zu werden, sagt schon einiges über einen Mut, der wahlweise in Ruchlosigkeit oder stoische Konsequenz mündet. Wie sehr sie am Schauspiel im Kino das Radikale sucht, zeigt sich unter anderem in ihrer stilisierten und intimen Darstellung der Autorin in Werner Schroeters Bachmann-Verfilmung „Malina“. „Vermutlich konnte nur Isabelle Huppert dieser Kamera und dieser Geschichte standhalten“, schrieb Georg Seeßlen einmal. Wie sich auch in „Die Klavierspielerin“ zeigte, sind die tief in der Seele bohrenden Narrative von Elfriede Jelinek, die das Drehbuch zu „Malina“ schrieb, wie gemacht für Huppert. Vielleicht weil es bei Jelinek um alles geht, ohne je in irgendeine romantische oder überhöhende Sprache zu fallen. Im Film wird ihre Figur einmal gefragt, warum sie diese Bücher schreibe. Sie entgegnet, dass die anderen schon geschrieben worden seien. Ähnliches lässt sich über die Figuren von Huppert behaupten.
Entzieht sich jeder Beschreibung
Aus derlei Annäherungsversuchen ist indes wenig gewonnen. Man hat das Gefühl, dass sich die immense Präsenz von Isabelle Huppert mit jeder Beschreibung mehr entzieht. Vielleicht muss man es bei einer einfachen Feststellung belassen: Wenn sie auf der Leinwand erscheint, ist alles möglich.