Anderswo,
zum Beispiel an der griechischen Nordgrenze. In seinen aus dem Jetzt
kommentierten Notizen aus einem Früher beschäftigt sich Till Kadritzke mit
Theo Angelopoulos’ Film „Der schwebende Schritt des Storches“, in dem ein
TV-Reporter einen verschwundenen Politiker als Flüchtling wiederfindet.
Was von einem Film manchmal bleibt, sind wirre Gedanken. So zumindest der Beginn meiner Notizen zu dem Film „Der schwebende Schritt des Storches“: Die Grenze ist fließend. Die natürliche. Da drüber nur ein Strich. Eine Linie. Nicht zu überschreiten. Wie der Fluss. Aber die Gründe sind unterschiedlich. Der Fluss ist schwieriger zu überqueren. Zumindest für Leute. Nicht für Kassettenrecorder. Nicht fürs Begehren. Der Fluss fließt, wenn auch quer zum Begehren. Über dem Strich muss man innehalten. Sonst ist man tot. Oder anderswo.
Ich mache mich noch einmal kundig, um den Plot aufzufrischen: Theo Angelopoulos’ „Der schwebende Schritt des Storches“ spielt an der griechischen Nordgrenze, an der Geflüchtete warten müssen und deshalb hausen. Ein Dokumentarfilm soll entstehen, der verantwortliche Journalist erkennt aber auch einen dort weilenden alten Mann als einen wenige Jahre zuvor spurlos verschwundenen Politiker wieder.
Man sieht das Verschwinden im Bild, als
alte TV-Aufnahme: Der Politiker soll eine Rede halten und spricht vom
Schweigen. Entschuldigt sich. Geht fort. Verschwindet. Er hat ein Buch
geschrieben. Es heißt: Melancholie am Ende des Jahrhunderts. Seine Frau, gespielt
von Jeanne Moreau, hat irgendwann aufgehört, ihn zu suchen, nachdem er
das zweite Mal verschwunden ist. Sie ist jetzt aber doch neugierig, als dieser
Fernsehjournalist meint, ihn gefunden zu haben.
Aber ist er das wirklich, ist er jetzt tatsächlich ein Flüchtling und verkauft im Grenzdorf Kartoffeln? Sind existenzielle und notwendige Flucht in ihm endgültig vereint? Hat er sich zum Asylsuchenden gemacht? Das ist er nicht, sagt Jeanne Moreau, als sie ihm gegenübersteht. Die Fernsehkameras nehmen ihr Gesicht ins Visier, wie es das Kino nur selten tut. Heißt das, sie lügt?
Erste Sequenz: Soldaten salutieren. Die Linie wird begutachtet. Erst als sich die Kamera auf Flusshöhe begibt, beginnt die Unterwanderung all dessen: mit Musik, die über den Fluss wandert und Grenzen überschreitet.
Andere Szene: das Tanzen der anderen als Verführung. Wie zeigt man, dass jemand etwas nicht tut? Ohne sehnsüchtigen Gegenschuss. Im Vordergrund walzern sie vorbei, dahinter sitzen zwei an zwei Tischen, noch weiter hinten eine Männergruppe. Sie guckt ihn so lange an, bis er sich bewegt. Er geht zur Tür und guckt sie so lange an, bis sie sich bewegt. Eine Berührung im Hotelzimmer. Später kehren sie zurück, und sie holt ihren Mantel. Beglückende fünf Minuten.
Der Flüchtling mit den Kartoffeln wird, wie der Politiker, von Marcello Mastroianni gespielt (erstaunlich häufig taucht Mastroianni in meinen Filmnotizen der letzten Jahre auf). Er erzählt einem kleinen Jungen die Geschichte vom Papierdrachen. Es ist eine Geschichte über Migration. Und irgendwie auch vom Klimawandel. Denn wenn die Erde der Sonne zu nahekommt, dann muss die gesamte Menschheit fliehen, ins Weltall. Und dann treffen sich alle in der Sahara, und alle haben einen Drachen und fliegen auf einen anderen Planeten. Auf einen gemeinsamen oder jeder auf einen anderen?
Das Fernsehen berichtet. Von den
Flüchtlingen. Wenn neue Kleider ankommen, dann wuseln sich die Kinder durch den
Klamottenberg, und das Fernsehen eilt herbei. Als das TV-Team das erste Mal das
Equipment aufbaut, fährt die Kamera an diesem Equipment vorbei und dann entlang
der Wägen, in denen die Flüchtlinge wohnen. Bleibt dabei auf Abstand. Kritik
der Großaufnahme, die nicht vermenschlicht, sondern vereinzelt.
Aus der Distanz: Zwischen der Individualisierung und der Identifizierung mit einem Kollektiv gibt es die Abstraktion des Gemeinsamen. Menschen als Silhouetten, als entfernte Ahnungen von Leben, von Familien. Die Abstraktion zerreißt mitunter mehr Herzen als die Nahaufnahme.
Alle Beiträge des Blogs „Im Affekt“ von Till Kadritzke sowie viele andere Texte, die im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums in früheren Jahren entstanden sind, finden sich hier.