Die Corona-Krise hat das Kino als Ort wie als Medium an einen Abgrund geführt. Man müsse das Kino retten, forderten die eine. Das Kino sei sicher, behaupten die anderen. Im Wechselbad von Öffnung und Lockdown florierte aber nur eines: das „Streaming“. Diskussionen oder Streit über Inhalte oder Ästhetiken waren kaum auszumachen. Auch deshalb täte eine Besinnung Not.
Je länger das Jahr 2020 andauerte, desto leerer wirkten die Worthülsen, die wir errichteten, um die Pandemie und das Leben mit ihr zu beschreiben. Argumente und Vokabular wiederholten sich und nutzten sich ab; das Genre der melancholischen Analyse füllte gleichermaßen die Seiten der Zeitungen wie die Feeds des Internets. Halbwissen florierte als kollektives Selbstverständnis. Alles verdichtete sich zu einem einzigen dumpfen Grundrauschen, dass zwischen unzähligen geöffneten Tabs und widersprüchlichen Schlagzeilen von einer Welt erzählte, in der man nicht leben möchte. Die Krankheit selbst wurde für jene, die bisher das Glück hatten, nicht mit ihr in direkte Berührung zu kommen, beinahe abstrakt.
Am Ende des Jahres wurde (wie jedes Jahr) das Jahr selbst zum Schuldigen auserkoren. 2020 ist nun der Bösewicht eines Narrativs, das eigentlich keine Jahreszahlen kennt, sondern sich schlicht an menschlichem Verhalten orientiert. Dass dieses Jahr vielleicht keine Ausnahme war, sondern eine logische Folge der vorangegangenen Jahre, wird zwar allgemein akzeptiert; doch die Vorstellung, dass die letzten Jahre die Ausnahme waren und dieses Jahr das erste „normale“ Jahr, geht den meisten dann doch zu weit. Das gilt auch für das Kino.

Der Rausch des Digitalen
Im Kino war wenig los (manchmal nichts), und trotzdem wurde viel darüber geschrieben. Einmal mehr ging es dabei auch um die Essenz des Mediums, das nun endgültig an einem Abgrund angekommen scheint, zumindest was seine populäre Existenz betrifft. „Streaming“ wurde zum Kinounwort des Jahres. Trailer verloren aufgrund der dauernden Verschiebungen ihren sowieso schon schwindenden Sinn, und Filmfestivals veränderten sich vor den Augen jener, die über sie schrieben, aber nicht besuchten.
Begleitet wurde die Doomsday-Rhetorik von panischen Hilferufen, trotzigen Relativisten und verdächtig schnellen Initiativen, die ihr Heil im endlosen Rauschen der digitalen Luft such(t)en. Alles in allem war die intellektuelle Aufgeregtheit, die rund um das Kino wütete. in keiner Sekunde stiller als in Jahren, in denen es Filme im Kino zu sehen gibt; fast beschlich einen Verdacht, dass es gar keine Filme braucht, um über das Kino zu diskutieren.
Von welchem Kino hier die Rede ist, mögen vor allem jene fragen, die diesen Text in der Zukunft lesen. Die ehrliche Antwort wäre wohl, dass das nicht mehr so klar ist, wie es einmal schien, aber es wäre doch sehr wünschenswert, wenn das Wort mit Filmen, konkreten Orten und einer Wahrnehmungsform in Verbindung stünde.
Dabei verdünnten sich die Argumentationsketten oftmals zu Schlagworten. Man müsse das Kino retten! Man brauche Kultur! Welches Kino und welche Kultur schien dabei immer unwichtiger zu werden. Die anfänglichen Rufe nach einer Chance, verschiedene eingespielte Mechanismen zu hinterfragen, verzogen sich schnell, weil die individuellen Existenzen, die am etablierten System hängen, zu wichtig sind und es den meisten, die irgendwo mehr oder weniger ausgebeutet oder ausbeuterisch am Kinotropf hängen, nicht schlecht genug geht, um wirklich etwas nachhaltig verändern zu wollen.
Nicht erst seit heute
Dass die Mediatheken des sogenannten Bildungsfernsehens vor schrecklichen Kitschfilmchen nur so platzen, das algorithmische Angebot von Netflix oder Amazon wie eine einzige Lärmsuppe durch den Äther schwimmt und man aus Hollywood seit einem Jahrzehnt (mit den regelbestätigenden Ausnahmen) augenverletzenden Comickrach und andere aufgewärmte Suppen für bereits existierende Fangruppen serviert bekommt, ist nicht erst seit 2020 so. Dass Filmfestivals sich statt ihrer Exklusivitätsbemühungen (die sich 2020 als Geoblocking outeten) um andere Anknüpfungspunkte für ein Publikum bemühen müssen, ist auch kein besonders neues Problem. Und dass die zumindest in Deutschland rückläufigen Zahlen an Kinobesuchern mit dem digitalen Überangebot zusammenhängt, war seit Jahren Grund für auf der Stelle tretende Debatten.
Die von den wiederholten Schließungen in Streamingportale abwandernden „Blockbuster“ (hier müsste man sich wohl ein neues Wort überlegen) scheinbar stärker betroffenen Kinoketten werden in vielen Argumentationen mit Programmkinos oder den auf künstlerische Filme ausgerichteten Verleihern über einen Kamm geschert. Alles vermischt sich in den Argumenten, die zum Thema geäußert werden: Selbstinteresse, Geschichte, Politik, Ästhetik, Wirtschaft. Alle Argumente haben ihre Rechtfertigung. Verändern muss sich trotzdem etwas, und sei es nur, weil man sich immer verbessern kann.

Es ist klar, dass das Kino sich spätestens ab 2021 neu aufstellen muss. Damit ist nicht gemeint, dass das Kino aus dem Kino auswandern muss, sondern dass das Kino seine Rolle im Zeitalter des dauernden Bewegtbilds überdenken muss. Denn im Gegensatz zu einem Virus spielt das Kino keine Rolle, wenn man es nicht sehen kann.
Nun gab es in der Filmtheorie schon immer zwei Lager, die in besseren Zeiten sogar für die gleiche Sache kämpften. Das eine Lager bestand aus jenen, die im Kino eine Wiedergabe des tatsächlichen Lebens vorfanden, eine Imitationskunst und damit einhergehend ein junges Medium am Puls der Zeit, einen integralen Bestandteil des populären Diskurses, ein Gefühl, das einen daran erinnert, wie es ist zu leben.
Im anderen Lager versammelten sich jene, die dem Kino eine ganz eigene, unabhängige, bisweilen utopische Kraft zuschrieben. Ein neuer Blick, die Illusion einer besseren Welt und ein Widerstand, der sich im Verhältnis zur Welt formiert.
Nimmt man diese beiden Strömungen, würde man mit ersterer wohl für ein digitales Fortleben des Mediums plädieren, für ein adaptives Verhältnis zu den dominanten Bewegtbildmedien à la Youtube und dem unbedingten Versuch, die fragmentierte Wirklichkeitswahrnehmung im Kino zu spiegeln, um sie damit greifbar zu machen. Aber das, was Theoretiker wie Walter Benjamin oder Siegfried Kracauer als Modernität verstanden, ist heute bestenfalls ein moderner Grund für Nostalgie. Denn selbst wenn sich das Kino technisch, narrativ oder durch das Marketing um größere Geschwindigkeit bemüht, bleibt es doch zu langsam. Den Beweis lieferte eigentlich schon Tony Scott mit seinem Film Unstoppable – Außer Kontrolle (2010). Darin versuchte er beständig, alle an einem immer schneller rasenden Zug hängenden Handlungsfetzen in größtmöglicher Gleichzeitigkeit miteinander zu verschränken, die globalen Zusammenhänge zwischen Medien, Privatraum, Öffentlichkeit, Natur, Erinnerung und Politik festzuhalten. Doch letztlich wirkt der Film langsam im Vergleich zu dem, was passiert. Ja, das Kino ist seither schneller geworden, aber die Welt ist uneinholbar.
Zeit, Raum, Körper
Das andere Lager würde daher heute wohl für eine andere Wahrnehmung plädieren, eine „entschleunigte“ Seinsweise. Dabei ginge es um ein Kino, dass sich gegen den dominanten Modus Operandi des Bewegtbilds stellt, das einen Raum für Konzentration, Immersion und Ambivalenz bietet und in dem man sich als körperlicher Mensch ausliefern muss. Diese Sichtweise beinhaltet auch „unangenehme“ Grenzen, zum Beispiel, dass nicht jeder Mensch alle Filme sehen kann. Die Bücherbranche könnte dem Kino da in mancher Hinsicht als Vorbild dienen. Einige der stärksten Filme des Festivaljahres 2020, Filme, die teilweise im digitalen Irgendwo hybrider Festivalformate untergingen, verhandelten diese Position.
„Mama“ von Li Dongmei etwa, eines der stärksten
chinesischen Spielfilmdebüts der letzten Jahre, betört mit einem beinahe
entrückten Zeitgefühl, dass die in den 1990er-Jahren spielende Handlung rund um
die Krankheit einer Mutter völlig zeitlos erscheinen lässt. „Werke und Tage
(der Tayoko Shiojiri im Shiotanibecken)“ von C.W. Winter und Anders Edström
interessiert sich mit seiner Laufzeit von 480 Minuten für die Zeit und ihr
Sichtbarwerden, „Blue Eyes and Colorful My Dress“ von Polina Gumiela
ermöglicht das Erleben von Zeit und Raum durch die Augen eines Kindes. In
keinem dieser Filme braucht es den Lärm der Zeit, um mitreißend vom Leben zu
erzählen. Wo und wie diese Filme 2021 noch gezeigt werden, wird sich erweisen.
Es wäre aber nötig, dass es Räume für diese Filme gibt, weil selbst wenn nicht
alle Menschen die Zeit und Kraft haben, sich 480 Minuten mit einem Film
auseinanderzusetzen (der keine Serie ist), sind es doch diese Arbeiten, die uns
helfen zu sehen, anders zu sehen und den Anderen/die Andere zu sehen.

Irgendwo zwischen dem elitären Bücherregal und dem Kleiderstapel beim Sonderverkauf dürfte wohl die Lösung liegen. Die Gefahr im neuen Jahr ist, dass sich das Kino verkaufen muss. Zuschauerzuspruch wäre die effektivste Verteidigung gegen den drohenden Niedergang, aber es bleibt wichtig, mit welchem Kino und welcher Kultur man diesen Zuschauerzuspruch sucht. Wenn Kinematheken damit beginnen, Popkultur zu betreiben, verraten sie dann nicht etwas am Kino? Wenn „Star Wars“ oder „James Bond“ in kleinen Programmkinos zu sehen ist, geht dann nicht etwas am Kino verloren? Und wenn große Produktionsketten ihre eigenen Streamingportale statt die Kinos füttern, ist dann nicht alles zu spät? Damit soll nicht gesagt werden, dass Franchises und Online-Angebote nicht genauso zum zeitgenössischen Kino gehören würden wie ein japanischer Kunstfilm; die Gefahr ist aber, dass der japanische Kunstfilm keinen Boden mehr unter seinen Füßen findet. Mit anderen Worten: Das Kino muss alles daran setzen, sich nicht nur als Wirtschaftszweig zu verstehen, selbst wenn sich diese Sichtweise aufdrängt und an entsprechenden Stellen eher auf offene Ohren stößt als ein Kunstargument.
Darüber hinaus braucht es mehr Übersicht. Auch wenn viele Stimmen bemerken, dass die Entkanonisierung der Filmgeschichte längst überfällig ist (oder war), braucht es doch Einführungen in diese Kunstform, die mit ihrer subjektiven Sicht und Leidenschaft, ihrer Expertise und Recherche Türen öffnen, die einen Eintritt in das Kino jenseits von Algorithmen, Feeds und Marketingmaschinen ermöglicht. Dieser Prozess müsste eigentlich bereits in der Schule beginnen. Jeder Film, der bewusst gezeigt und somit auch gesehen wird, ist heute eine Medizin, die das Leben des Kinos verlängert. Es sei denn, die bewusste Entscheidung richtet sich nur auf die Finanzen. Dass das Kino das Gedächtnis des 20. Jahrhunderts enthält, muss bei jeder Gelegenheit bewiesen werden. Dass das Kino noch immer einen Teil der Welt speichert, auch.
Warum das Kino weiterhin ein Versprechen ist
Dass im und durch das Kino politische, gesellschaftliche und philosophische Themen verhandelt werden, die aus der Welt in die Filme schwappen und von dort zurück in die Welt, mag wie eine banale Feststellung klingen, doch man liest sehr selten davon, wenn es nur noch darum geht, dass die Kinos schnell wieder öffnen müssen. Dass uns das Kino zu reicheren, glücklicheren und besseren Menschen machen kann, muss verteidigt werden. Leider vertreibt sich ein Großteil jener, die das Kino gestalten und kommentieren, die Zeit damit, den eigenen Geschmack mit der eigenen Schlauheit zu rechtfertigen statt wirklich für das Kino einzutreten. Darum müsste es aber gehen. Es braucht weniger schlaue Texte und Programme und mehr Liebe zum Kino.
Das Kino ist sicher. So konnte man in den vergangenen Wochen von Kinobetreibern lesen. Doch so erfreulich die dazugehörigen wissenschaftlichen Erkenntnisse bezüglich einer viralen Ansteckungsgefahr sind, so zweifelhaft ist der Wunsch nach Sicherheit. Das Kino als Ort der Geborgenheit hat keine Chance gegenüber dem Sofa oder Bett zuhause. Das Kino muss unsicher sein! Was wie der Albtraum jeder Marketingabteilung erscheint, ist vielleicht die letzte Rettung. Schließlich haben all die marktorientierten Überlegungen des letzten Jahrzehnts immer nur einen Schritt tiefer in den Abgrund geführt. Es wäre eigentlich eine gute Zeit dafür, etwas zu wagen.