Alfred Hitchcock als Hauptfigur
einer Graphic Novel? Sir Alfred hätte es gefallen! Er war schließlich nicht nur
ein großer Regisseur, sondern wurde auch als Genie der Selbstvermarktung
berühmt, das alle Kanäle zu nutzen wusste. Zeichnungen waren zudem ein
wichtiges Medium für den Filmemacher, der 1920 als Gestalter von Zwischentiteln
bei Famous Players-Lasky in London anheuerte und später seine pausbäckige
Silhouette mit wenigen Strichen selbst entwarf. Außerdem ließ er viele seiner
Filme von „Irrgarten der Leidenschaft“ (1925) bis „Familiengrab“
(1976) mit zunehmender Präzision als Storyboards skizzieren.
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Mit „Der Mann aus London“ ist nun der erste von zwei Teilen eines „Alfred Hitchcock“-Comics erschienen, für den sich der französische Hitchcock-Kenner und Filmhistoriker Noël Simsolo mit dem Zeichner Dominique Hé zusammengetan hat. Der erste Band beschränkt sich auf die britische Phase des Meisters, der erst in Hollywood in Technicolor drehte; entsprechend sind die in ihrem klaren Stil an den Tim-und-Struppi-Erfinder Hergé erinnernden Zeichnungen in Schwarz-weiß gehalten.
Mit kühlem Strich vergegenwärtigt Hé das London zwischen Jahrhundertwende und späten 1930er-Jahren beziehungsweise Landschaften in Cornwall, Schottland oder der Schweiz. Die Physiognomien von Hitchcock und seiner Schauspieler bekommt er weniger gut in den Griff. So verändert sich das legendäre Antlitz des Brandy trinkenden oder Zigarre rauchenden Regisseurs von Bild zu Bild – und trifft dann bestenfalls die ungefähre Hitch-Maske eines Anthony Hopkins in dem „Hitchcock“-Film von Sacha Gervasi.
Hitchcocks Mutter und das Paranoia-Thema
Auf der Ebene der Story hält der Szenarist Simsolo geschickt die Balance zwischen biografischer Korrektheit, ausgeschmückten Anekdoten und erfundenen Situationen. Der Autor übertreibt es mit psychologischen Erklärungen allerdings bei der Frage, wie das Thema Paranoia in Hitchcocks Filme kam. Sehr plausibel wird seine Mutter als widersprüchliche Figur charakterisiert, die sich einerseits meist kraftlos-depressiv im Bett aufhält, andererseits rigide Ansichten zu Gott, der Welt und heiratsfähigen Frauen vertritt. Die Bedeutung der Cutterin Alma Reville, die Hitchcock 1920 in den Islington Studios kennenlernte und 1926 heiratete, wird ebenso gewürdigt wie damalige britische Filmgrößen, die den Anfänger förderten.
Comic-Episoden zu Produktionen wie „Der Mieter“ (1926), „Blackmail“ (1929), „Mord – Sir John greift ein“ (1930) oder „Jung undunschuldig“ (1937) werden zu „Making of“-Vignetten, die den durch einen Glasboden gefilmten Gang von Ivor Novello erklären, das Soundexperiment mit dem Wort „Messer“ im ersten englischen Tonfilm, warum Herbert Marshall sich zur Live-Performance eines Wagner-Orchesters rasierte oder wie die lange Kamerafahrt durch einen Ballsaal bis zu den zuckenden Augen eines Drummers entstand. Hitchcocks schwarzer Humor und seine legendären Scherze dürfen nicht fehlen, darunter seine ausgedehnte Mittagspause während des Drehs von „Die 39 Stufen“: Er gibt vor, Stunden nach einem Schlüssel für ein Paar Handschellen gesucht zu haben, derweil die im Studio aneinandergeketteten Madeleine Carroll und Robert Donat völlig entnervt sind, nachdem sie sogar gemeinsam aufs Klo gehen mussten.
Neue Lust auf die frühen Hitchcock-Filme
Hitchcocks Interesse an politischen und sozialen Themen kommt im Comic ebenso vor wie sein Ärger darüber, dass sein Patriotismus angezweifelt wurde, als er kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mit Frau, Tochter, Köchin und Haushälterin an Bord der „Queen Mary“ ging, um seine Filmkarriere in den USA fortzusetzen. Dass die Graphic Novel an der Bar des Ozeandampfers endet – mit den Worten des Apfelwein ordernden Filmemachers „Cidre und Friede auf Erden“ – wirkt inkonsequent, da Simsolo sich für die Rahmenhandlung die Dreharbeiten von „Über den Dächern von Nizza“ im Jahr 1954 in Südfrankreich ausgesucht hatte. Geschickt ließ sich so die in den 1950er-Jahren einsetzende Neubewertung des Hitchcockschen Œuvres durch die französische Filmkritik – hier personifiziert durch André Bazin – einbauen; außerdem konnte Grace Kelly vorzeitig als Ideal der kühlen Hitchcock-Blondine auftreten und Cary Grant als filmisches Alter Ego des Geschichtenerzählers vorgestellt werden, zumal Grant (alias Archibald Leach) als Landsmann und Generationskollege wiederum Verbindungen zu den britischen Episoden stiftet.
Insgesamt ist die Graphic Novel dramaturgisch so gut gelungen, dass man Lust bekommt, sich die frühen Hitchcock-Filme wieder anzuschauen. Dass ausgerechnet Womanizer Cary Grant ein unsympathisches Mount-Rushmore-Gesicht verpasst bekommt, dass Charles Laughton („Ich habe ein Gesicht wie das Hinterteil eines Elefanten“) andererseits zu einem ins Jahr 1938 verirrten John C. Reilly verhübscht wird und Grace Kelly und Marlene Dietrich sich wie Barbies Zwillingsschwestern gleichen, muss man als visuelles Manko wohl verschmerzen.
Literaturhinweis
Alfred Hitchcock – 1. Der Mann aus London. Graphic Novel von Noël Simsolo (Text) und Dominique Hé (Grafik). Splitter Verlag, Bielefeld 2020. 160 S. 24 EUR. Bezug: In jeder Buchhandlung oder hier.