Der Titel meiner Essayreihe ist einem Text der Filmemacherin Maria Lang entliehen, zu finden ist er in dem von Ute Aurand herausgegebenen Buch „Maria Lang. Texte zum Film“ (2017). „Das Kino, die Wirklichkeit und ich“ hat etwas Evidentes: Alles, was ein persönliches Filmemachen, wie Lang und andere es betrieben, ausmacht, ist darin genannt.
Es beginnt mit einem Ort: eine Stadt, eine Straße, ein Haus, eine Wohnung, ein Fenster. Die Schauplätze sind zum Beispiel diese:
- ein Apartment im Westen von Tel Aviv, ein halber Häuserblock vom Strand entfernt
- eine Wohnung in Damaskus
- eine geräumige Wohnung in einem elsässischen Dorf im Naturpark Vosges du Nord
- mehrere Wohnungen in Brüssel
- ein Atelier „mit besonderem Ausblick“ gegenüber dem Alten Güterbahnhof an der Hohlstraße im Quartier Außersihl in Zürich
- ein Apartment gegenüber der Métrostation Jaurès in Paris mit Blick auf das Ufer des Canal Saint-Martin
Für das Erzählen aus der ersten Person sind Kammerstück und Fensterfilm die naheliegendsten Formen. Man muss dafür nicht mal vor die eigene Tür. In den Filmen, von denen im Folgenden die Rede sein wird, ist der Raum ebenso Protagonist wie die Personen, die in ihm wohnen oder vorübergehend dort verweilen, die in ihm arbeiten und filmen – die in ihn hineinfilmen oder aus ihm hinausfilmen. Kammerstück und Fensterfilm verhalten sich zueinander wie Schauseite und Innenseite, ihre Blicke gehen üblicherweise in die entgegengesetzte Richtung. Als direkte Nachbarn sind sie ein ungleiches Gespann. Ist das Kammerstück da, ist der Fensterfilm meist abwesend und umgekehrt. Manchmal sind sie aber auch „on speaking terms“, und der eine Film lässt den anderen in sich hinein; egalitär ist ihre Beziehung aber nur selten. Mit sich selbst haben sie es aber auch nicht einfach.
Belagerungszustand
Für die Beschränkung des
filmischen Raumes auf (die eigenen) vier Wände gibt es so zwingende wie
konzeptuelle Gründe: Krankheit, Niedergeschlagenheit, Scheu vor Menschen, Arbeit
am Schreibtisch, Gefahren von außen wie Viren und Krieg – das Interesse für
Raum-Zeit-Beziehungen, für Raumerfahrungen, für die Kondensierung von Handlung
und Atmosphäre. Oft dokumentiert die dramaturgische Verdichtung auf den
Innenraum eine reale Situation. Während „Là-bas“
(2006) entsteht, ist Chantal Akerman die meiste Zeit in ihrer
Wohnung in Tel Aviv eingeschlossen. Sie versucht ihrem Verhältnis zu Israel
näherzukommen, liest „komplizierte Bücher über das Judentum“, ab und zu
klingelt das Telefon und Bekannte erkundigen sich nach ihrem Befinden oder
schlagen Unternehmungen vor, sie lehnt ab. Es gibt aber noch einen anderen
Grund, „zu Hause“ zu bleiben: Während ihres mehrwöchigen Aufenthalts kommt es
unweit der Wohnung zu einem Selbstmordattentat mit mehreren Toten.
In Sara Fattahis „Coma“
(2015) harren drei syrische Frauen in einer Wohnung in Damaskus aus, der Krieg
hat ihr Leben stillgestellt, Großmutter, Mutter und die filmende Enkeltochter sind
von Gelähmtheit und Unruhe erfasst. Auch „Ne croyez surtout pasque je hurle“ (2019) dokumentiert eine Einbunkerung. Nach dem Ende
einer Beziehung findet sich der Filmemacher Frank Beauvais
plötzlich allein und isoliert in dem kleinen Dorf im Elsass wieder, in das er
Jahre zuvor mit seinem Lebensgefährten gezogen war, weil es sich dort günstiger
lebt als in Paris und wegen der schönen Natur. Er schläft wenig, geht kaum
raus, leidet an Panikattacken. Zwischen April und Oktober 2016 schaut er mehrere
hundert Filme, drei, vier, manchmal auch fünf am Tag und oft bis in die späte
Nacht hinein.
„Das Draußen und das Drinnen sind zwei Innerlichkeiten; sie sind immer bereit, umzukippen, ihre Feindlichkeit auszutauschen. Wenn es eine Grenzfläche zwischen einem solchen Drinnen und einem solchen Draußen gibt, so ist diese Grenzfläche auf beiden Seiten schmerzhaft.“
(Gaston Bachelard, „Poetik des Raumes“)
Die Filme von Beauvais, Fattahi und Akerman haben zum Raum ein kritisches Verhältnis. Er ist beides: Schutzzone und Gefängnis, Ausdruck auch eines inneren Belagerungszustands. Eingefaltet in den konkreten Raum sind andere Räume: Erinnerungsräume, Geschichtsräume, Reflexionsräume, manchmal auch ein diffuser Zustand, den Akerman mit „drifting, flowing, sinking“ beschreibt. In „Coma“ lauert unter dem Krieg, der das Land unaufhaltsam zerstört, noch ein anderer. Er hat mit den Beschädigungen in einer Ehe zu tun, die auch Jahre nach deren Ende ihre Nachwirkungen zeigen: „Der Krieg ist in dir. Er ist beides, innen und außen“, so Fattahis Mutter. Im Heimisolationsfilm wird das Kino als ein Medium registrierender Zeitlichkeit mobilisiert, gleichzeitig weist der Raum in die Tiefe der Vergangenheit.
Raum aus Zeit
Vor dem Fenster verändern sich die Dinge, es tut sich was. Man
sieht Bewegungen von Menschen und Gegenständen, Figuren treten ins Bild und
wieder ab, neue kommen hinzu, es ändern sich Wetterlagen, Lichtverhältnisse und
Jahreszeiten, der Raum wird umgestaltet. Das Kammerstück hingegen ist ein
Stocken und Verharren – Handlungen wiederholen sich. In ihrem stummen
Selbstporträt „La chambre“ (1972) hat Akerman diese zirkuläre Bewegung buchstäblich
in Szene gesetzt: in Form von mehreren langsamen 360°-Schwenks
durch ein unaufgeräumtes Zimmer. „La chambre“ ist ein bewegtes Stillleben, das
den Raum jedoch nie im Ganzen sichtbar werden lässt. Die Kamera streift einen
Stuhl, die Regisseurin im Bett, einen Küchentisch, einen Herd, eine Kommode. Jedes Mal, wenn Akerman ins Bild kommt, wechselt sie die Pose – einmal
schaut sie direkt in die Kamera, ein anderes Mal hält sie einen Apfel, in den
sie wieder ein anderes Mal hineinbeißt. Die Betrachterin setzt Figur, Raum und
Objekte in Verbindung, eine Erzählung setzt sich in Gang. Die Frau könnte schon
seit Tagen so im Bett herumliegen.
„In seinen tausend Honigwaben speichert der Raum verdichtete Zeit. Dazu ist der Raum da.“
(Gaston Bachelard, „Poetik des Raumes“)
Selbsterhaltungssysteme
Auf der Erzähloberfläche des Heimisolationsfilms stehen meist gewöhnliche Alltagshandlungen: Aufstehen, Frühstücken, Zeitung lesen, Radio hören, Kochen, Aufräumen, zu Bett gehen. Die häuslichen Routinen geben Halt in einer Welt, die kurz vor dem Kollaps steht. In „Coma“ wird der Zustand des Betäubtseins schon im Titel zum Ausdruck gebracht, immer wieder finden sich die drei Frauen geradezu rituell beim Kaffeetrinken um einen kleinen runden Tisch wieder, der Raum ist dunkel, Vorhänge verdecken den Blick aus dem Fenster, die Mutter raucht, auch ihre langen Haare sind ein Vorhang – „Auf was warten wir? Ich weiß es nicht“, sagt sie. Ähnlich wie Akerman filmt Fattahi von der Türschwelle aus, eine Wand schneidet den Raum zum schmalen Rechteck, verdeckt die Filmemacherin. Wie fragil die den Tag strukturierenden Ordnungsprinzipien in Wahrheit sind, zeigt wohl kein Film so eindrücklich wie Akermans „Jeanne Dielman, 23 quai du Commerce, 1080 Bruxelles“ (1975). Ein „Fehler“ in der Choreografie der Alltagsverrichtungen führt hier zum allmählichen Zusammenbruch eines mühsam errichteten Systems der Selbsterhaltung.
No Home Movies
Der amerikanische Filmkritiker Jonathan Rosenbaum hat das Kino von
Akerman einmal zutreffend mit „Missbehagen von Körpern in Räumen“ zusammengefasst.
Tatsächlich fühlen sich die Figuren in Akermans Filmen nur selten angekommen. Die
Räume geben kein Gefühl der Sicherheit, der Verwurzelung, des Zu-Hause-Seins, der
Zustand eines ewigen Exils hat sich in ihnen manifestiert. Dies ist kein Home Movie, weil es
kein Zuhause geben kann, nicht mit dieser Familienvergangenheit, nicht mit dem
Trauma der Shoah, sagt der Film, der auch so heißt: „No Home Movie“
(2015). Es ist ihr letzter. Programmatisch rahmt Akerman die Bilder durch
Türschwellen, Fensterrahmen, Vorhänge und halb offene Türen.
Mit dem Fenster hat Akerman etwas zu klären, meist hält sie es auf Distanz, nur selten überschreitet der Blick die Grenze zum Außenraum. Der erste Teil ihres Spielfilmdebuts „Je tu il elle“ (1975), das wie „La chambre“ stark dem strukturalistischen Kino verpflichtet ist, zeigt eine Frau, Julie (Akerman), bei repetitiven Ritualen: Zwanghaft wuchtet sie eine Matratze durchs Zimmer und probiert mit ihr (und an ihr) verschiedene Positionen und Posen aus. Einmal stellt sie das Ding wie ein Brett hochkant vors Fenster, als wolle sie es gleich damit zunageln. In „L’homme à la valise“ (1983), ein Film, der zu Akermans „komischen“ Filmen gehört (sie zeigt darin ihre chaplineske Seite) plagt sich eine Filmemacherin – wieder Akerman – mit einem unliebsamen Gast in der Wohnung. Sie versucht, den Raum unter ihre Kontrolle zu bringen und mittels eines ausgetüftelten Zeitplans eine Begegnung mit dem Mann zu verhindern. Ihre Besessenheit geht schließlich so weit, dass sie ihre Kamera vor dem Fenster positioniert, um das Kommen und Gehen des Mannes beobachten zu können. Akerman zeigt den Fensterblick jedoch nie direkt: Stattdessen schaut Julie in den Fernseher, den sie an die Kamera angeschlossen hat.
„Wenn ich aus dem Fenster schaue,
gehe ich ganz in mich hinein“, sagt Akerman in „Là-bas“ und erinnert
sich, wie sie als Kind oft stundenlang am Fenster saß und rausschaute, die
Mutter ließ sie nicht auf die Straße (zu gefährlich). In
verschiedenen Einstellungen richtet sie die Kamera im Gegenlicht auf die
Fenster der Wohnung: mit Blick auf die Balkone und Terrassen des
gegenüberliegenden Hauses. Durch die Bambus-Rollos vor dem Fenster wirkt das
Bild wie mit einer geometrischen Schraffur „beschrieben“, die feinen Lamellen
werden zum „Grid“. Nur da, wo die Rollos nicht bündig abschließen, lässt ein
Spalt die Sicht frei – einen Gegenschuss in die eigene Wohnung gibt es nicht.
Wo „Là-bas“ die Abstraktion im Raster sucht und den gefilmten Raum in Beziehung setzt zur Zweidimensionalität der Leinwand, ist die Bildlichkeit in „Coma“ geradezu amorph. Fattahis Bilder sind klaustrophobisch, von der Textur fast schon dickflüssig, der dunkel möblierte Raum löst sich in Unschärfen und schemenhaften Formen auf, das Licht ist diesig, die Farbpalette ein Gemisch aus Braun- und Ockertönen. Allein die eruptiven, wie aus dem Unbewussten nach oben schwappenden Schnittfolgen und die Tonspur konterkarieren den zermürbenden Stillstand. Die melodramatischen Dialoge und die schwülstige Musik der Soap-Operas, die man nie zu Gesicht bekommt, bilden einen ständigen Klangteppich. Blicke aus dem Fenster gibt es nur punktuell. Einmal sieht man in der Ferne beiläufig eine Bombenexplosion.
Spiegelbilder
„Ne croyez surtout pas que je hurle“ ist ein Heimisolationsfilm ohne sichtbaren Raum, an die Stelle von Stillstand und Lähmung treten Sprachdichte und visueller Überschuss. Ein tagebuchartiger Text prescht durch den Film, Beauvais hat ihn in knappen, akkumulativen Sätzen geschrieben und trägt ihn im vorwärtstreibenden Tempo aus dem Off vor. Die Bilder musste er nicht selbst machen, sie waren ja schon da: in den zahllosen Filmen, die er tagtäglich verschlang. „Ne croyez surtout pas“ besteht ausschließlich aus kurzen Filmausschnitten, die über die Dauer von 75 Minuten eng getaktet aufeinanderfolgen. Der Schwindel, die Angst, die Panik: Das alles findet sich wieder im beschleunigten Rhythmus der Bildsplitter: stumme Details, die eine ganz eigene, oft gewaltsame Poesie entfalten, Einstellungen etwa von Augen, von Löchern und Öffnungen, von Fleisch, Mordwerkzeugen, toten Tieren. Die schönen Bilder vergisst man schneller.
Beauvais’ persönliche Geschichte als schwuler Mann und Sohn eines homophoben Vaters öffnet sich immer wieder – darin lose verbunden mit den autofiktionalen Texten von Didier Eribon – zu einer gesellschaftlichen Perspektive auf die Missstände und Katastrophen der Zeit: sinkende Flüchtlingsboote, der Ausnahmezustand nach den Terroranschlägen in Frankreich im November 2015, die Polizeigewalt, der Abbau des Sozialstaates, die Räumung des „Dschungel“ von Calais. Beauvais schreibt sich in seine Wut und Verzweiflung hinein, in einen Schrei (hurlement). Als Erinnerungsfilm ist „Ne croyez surtout pas“ eher unorthodox, noch im retrospektiven Blick walzt er sich nach vorne, die Bilderkette wird zur Nahrungskette. Beauvais spricht von „filmischer Bulimie“, von einem „cinephilen Menü“ und davon „Filme zu sich zu nehmen“. Doch in seiner Depression vermögen sich ihm die Filme nicht mehr als Fenster zur Welt zu öffnen, sie werden zu einem Spiegel.
Fenster zur Welt
André Bazins Diktum vom Kino als „Fenster zur Welt“ – ein Argument für den filmischen Realismus und gegen das Verständnis des Kinobildes als Rahmen – nimmt der Fensterfilm beim Wort. Der Blick nach Draußen wird zu einem Bewegtbild, das Realität aufzeichnet bzw. von ihr „bewohnt“ wird. Der Voyeurismus des Fensterfilms ist systemisch, wenn auch von unterschiedlichen Motiven und Objektbeziehungen angetrieben. In „Jaurès“ (2012) erinnert sich Vincent Dieutre daran, wie sein Geliebter das Geschehen vor dem Fenster „mein kleines Theater“ nannte. Das war liebevoll und nicht „von oben“ gemeint – er kannte die Menschen, die unter der Brücke campierten, von seiner politaktivistischen Arbeit. Dieutres Blick ist behutsam, durchlässig, anders als die des Schweizers Thomas Imbach. Seine Schaulust in den beiden Fensterfilmen „Day is Done“ (2011) und „Nemesis“ (2020), die beide über mehrjährige Zeiträume entstanden, ist hemmungslos, neugierig, affektiv aufgeladen, sein Verhältnis zum Raum topophil. Das Atelier gegenüber dem alten Güterbahnhof in Zürich bewohnt der Filmemacher schon seit 1989. Der Ausblick ist phänomenal, kinematografisch, „bigger than life“. Wie ein klassischer Kinoerzähler filmt Imbach auf 35mm, holt die Figuren im Zoom zu sich und überhöht sie momenthaft zu Leinwandikonen. Er untermalt die Bilder mit Musik, arbeitet mit Zeitraffer und Slow-Motion, nutzt die wechselnden Lichtverhältnisse wie Scheinwerfer. Die Lust am reinen Bewegtbild mischt sich mit dem Interesse des gesellschaftskritischen Stadtchronisten. „Nemesis“ ist mehr als alles das Dokument einer urbanen Zerstörung, die sich mit einer sicherheitspolitischen Aufrüstung gemein macht. Im Laufe des Films wird der Güterbahnhof vor dem Fenster platt gemacht, nach einer Phase des Stillstands und des Übergangs – die Brache beherbergt zwischendurch einen Street Food Market – steht an seiner Stelle am Ende der Neubau eines Polizei- und Gefängniszentrums. Imbach erzählt den Abriss wie einen Katastrophenfilm: einstürzende Dächer, roboterhafte Maschinen beim Häuten und Ausweiden von Gebäuden.
Andere Stimmen, andere Räume
Die Instanz hinter der Kamera bleibt beim Fensterfilm oft
verborgen oder tritt nur über Umwege in die Erzählung, der Innenraum liegt
jenseits des Bildes. Oftmals inszeniert sich der Fensterfilm aber auch gerade
an den Schnittstellen von Außen und Innen. In der fiktiven Autobiografie „Day is Done“ hört man zu den Bildern – ein- und ausfahrende Züge, Flugzeuge, das
nächtliche Lichtermeer, spielende Kinder, Liebespaare, Geschäftsleute mit
dicken Wagen – Nachrichten, die zwischen 1988 und 2003 auf dem Anrufbeantworter
des abwesenden (oder nicht ans Telefon gehen wollenden) Filmemachers
hinterlassen wurden: vom Vater, der Lebensgefährtin, von Freunden, Mitarbeiterinnen.
Sie erzählen vom Urlaub, vom Wetter, vom Tod des Vaters, von Freundschaft, dem
Vaterwerden und dem Zerbrechen einer Beziehung wie auch von den Wechselbewegungen
einer künstlerischen Laufbahn. Jede hinterlassene Nachricht schreibt den
Künstlerroman weiter, die Figur hinter dem Adressaten, im Abspann „T“ genannt,
entfaltet dabei eine hartnäckige, ins Leere laufende Präsenz. Einige Male sieht
man ein Spiegelbild im Fenster, der Mann hinter der Kamera sucht sein Bild.
In „Nemesis“ verschiebt sich Imbodens Perspektive von der Trauer über den Verlust eines historischen Ortes bald auf die Gegenwart. Der unsichtbare Ich-Erzähler gibt seine autobiografische Stimme weiter: an Mourad, Abdoul, Salah, Benji, Bibasta und andere Geflüchtete, die nach ihrer gefährlichen Reise aus Tunesien, Eritrea, Libyen, Algerien oder Kurdistan über das Mittelmeer im Gefängnis als so genannte „Ausschaffungshäftlinge“ (wie in der Schweiz Menschen in Abschiebehaft heißen) einsitzen. In ihren Off-Erzählungen öffnen sich andere geografische und geopolitische Räume. Die hier berichten, könnten die zukünftigen Insassen des vor unseren Augen wachsenden Betonkolosses sein.
Das Unbewohnbare
Vincent Dieutre macht die Schauanordnung des Fensterblicks transparenter, mehr noch: Er verdoppelt sie. Die Bilder von „Jaurès“ sind Videoaufnahmen aus den Fenstern der Wohnung von Simon, dem ehemaligen Geliebten des Filmemachers, gefilmt zu verschiedenen Jahreszeiten, mal von Weitem, mal im Close-Up oder in tastenden Zoombewegungen. Dieutre sieht sich die Aufnahmen gemeinsam mit der Schauspielerin Eva Truffaut in einem Studio an, der Abspann führt beide als „Les témoins“ (die Zeugen) auf. Dieutre sagt etwas zu den Bildern, Truffaut fragt nach, ohne Umschweife: „Wo ist das?“ – „Was ist das?“ Das Kammerstück erzählt eine im Verborgenen stattfindende Liebesgeschichte, die sich über Dieutres Erinnerungen und den Ton entfaltet (man hört Schritte, eine Dusche, Küchengeklapper, Radioberichte, ein Klavierstück, das Simon immer wieder einübt), der Fensterfilm erzählt ein Alltagsdrama europäischer Migrationspolitik. In Jaurès haben Geflüchtete unter der Brücke zu beiden Seiten des Kanals ein improvisiertes Lager errichtet. Die Bilder zeigen, wie sie den prekären Raum organisieren, wie in all der Unwirtlichkeit so etwas wie Alltag installiert wird. Immer wieder kommt die Polizei zu Kontrollen vorbei, einige Monate später erfolgt die Zwangsräumung.
In seinem Buch „Träume von Räumen“ beschreibt
Georges Perec, was es bedeutet, wenn Räume keinen Schutz und keine Stabilität mehr
bieten, wenn sie zum „Unbewohnbaren“ (l’inhabitable) werden. Seine Beschäftigung
mit dem Raum (mit der Aneignung von Raum wie mit der Raumverlustangst) weist
ähnlich wie bei Akerman in die eigene Familiengeschichte. Als Sohn
polnisch-jüdischer Eltern verlor er während des Zweiten Weltkriegs die Eltern, die
Mutter vermutlich in deutschen Vernichtungslagern, er selbst überlebte in einem
Versteck bei Verwandten auf dem Land. Am Ende von „Träume von Räumen“ schreibt
er: „Ich möchte, daß es dauerhafte, unbewegliche, unantastbare, unberührte und
fast unberührbare, unwandelbare, verwurzelte Orte gibt; Orte, die Empfehlungen
wären, Ausgangspunkte, Quellen ... Solche Orte gibt es nicht, und weil es sie
nicht gibt, wird der Raum zur Frage, hört nicht auf, eine Gewißheit zu sein,
hört auf eingegliedert zu sein, hört auf, angeeignet zu sein. Der Raum ist ein
Zweifel ...“
Literatur
Gaston Bachelard, Poetik des Raumes, Paris 1957
Steven Jacobs, „Semiotics of the Living Room: Domestic Interiors in Chantal Akerman’s Cinema“, in: Chantal Akerman. Too Far, Too Close, Amsterdam 2012
Georges Perec, Träume von Räumen, 1974
Jonathan Rosenbaum, „Chantal Akerman: Unverbrüchliche Einheit von Exil und Alltag“, in: Chantal Akerman, Wien 2011