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Filmklassiker: "Verdammt sind sie alle"

Ein Melodram von Vincente Minnelli und sein atemberaubender Schluss

Veröffentlicht am
08. Mai 2023
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Unter den Melodramen des Hollywood-Regisseurs Vincente Minnelli nimmt „Verdammt sind sie alle“ (1958) einen besonderen Platz ein. In der Geschichte eines gescheiterten Künstlers, der in seine spießige Heimatstadt zurückkehrt und zwischen gegensätzliche Lebensentwürfe gerät, beweist sich Minnelli als sensibler Chronist, auch weil seine formale Virtuosität kein Selbstzweck ist, sondern die Verlogenheit der biederen Stadtbewohner konsequent ausstellt. Der Film ist in Deutschland digital als Stream und Download verfügbar.


Denke ich an Vincente Minnelli und seine Filme, fallen mir zahlreiche angenehme, vielleicht sogar glücklich verbrachte Kinostunden ein. Der fröhliche „Trolley-Song“ in Meet Me in St.Louis zum Beispiel oder die Virtuosität der Farbgebung im „Limehouse Blues“ aus den Ziegfeld Follies, das surrealistische Ballett aus Yolanda und der Dieb oder die elegante Kamerafahrt der Wildschweinjagd in Das Erbe des Blutes, das „Girl Hunt“-Ballett am Ende von Vorhang auf mit gefährlichen Gangstern und bedrohlicher Femme fatale oder das 16-minütige, extravagante Ende von Ein Amerikaner in Paris. Momente, die mich lauthals lachen lassen oder staunen machen, die mich bedrücken oder umwerfen, die mich unterhalten oder anrühren. Viele Filme Minnellis sind pure Freude und ästhetischer Genuss. Salopp ausgedrückt: Minnelli macht Spaß, und allein diese Tatsache macht ihn für mich zu einem der ganz großen Regisseure Hollywoods, der Filmgeschichte überhaupt. Er ist einer meiner Lieblingsregisseure.

Minnelli ist vor allem berühmt für seine Musicals (die allerdings nur ein Drittel seines Gesamtwerks ausmachen). Nicht so berühmt sind seine Komödien, und gar nicht berühmt sind seine Melodramen. Sie gerieten über die Jahre aus dem Fokus der Öffentlichkeit und blieben ohne Erfolg. Das ist bedauerlich, denn eines seiner Melodramen, eines der verstörendsten, vielschichtigsten Werke des Genres überhaupt, hat es mir besonders angetan: Verdammt sind sie alle („Some Came Running“, 1958; als VoD zu sehen via Amazon Prime, iTunes und CHILI), entstanden nach dem autobiographischen Roman von James Jones. Jones wurde 1951 mit „Verdammt in alle Ewigkeit“ schlagartig berühmt und mit dem „National Book Award“ ausgezeichnet. Prompt fragte sich die Literaturwelt, was sich der über alle Maßen gehypte Autor als nächstes einfallen lassen würde. Die Antwort ließ sechs Jahre auf sich warten. „Some Came Running“, sein zweiter Roman, erschien erst 1957, zwei Jahre später als „Die Entwurzelten“ auch auf Deutsch. MGM erwarb die Filmrechte für 250.000 Dollar – noch vor der Veröffentlichung, übertrug Sol C. Siegel die Produktion und Vincente Minnelli die Regie.


Unbequeme Stimmung von Anfang an

Ein zweifelnder Künstler im Fokus – das musste Minnelli einfach interessieren. Und so spielt Frank Sinatra, der fünf Jahre zuvor mit Fred Zinnemanns Jones-Verfilmung von Verdammt in alle Ewigkeit sein Leinwand-Comeback gefeiert hatte, den mutlosen Schriftsteller Dave Hirsh, der wie ein verlorener Sohn aus dem Krieg in seine Heimatstadt Parkman, Illinois, zurückkehrt (die Außenaufnahmen entstanden über drei Wochen hinweg in Madison, Indiana). Zu Beginn des Films sehen wir ihn schlafend im Überlandbus. Aber die laute, dissonante und unbequeme Musik von Elmer Bernstein legt sich beunruhigend über die Bilder und gibt so eine Stimmung vor, die den Film nicht mehr verlassen wird und schon einen Ausblick gibt auf das tragische Ende.


Frank Dinatra mit Filmpartnerin Shirley MacLaine (© IMAGO / Allstar)
Frank Sinatra mit Filmpartnerin Shirley MacLaine (© IMAGO / Allstar)

Hirsh hat eine Hure mit Herz im Schlepptau, die sich schwärmerisch an ihn hängt: Ginny. Shirley MacLaine, 1958 noch am Anfang ihrer Karriere und oftmals für ihren linkisch-exzentrischen Schauspielstil gescholten, spielt sie, angetan mit flatternden Boas und geschmacklosen Taschen, umwerfend. Sie ist das einzige menschliche Gesicht des Films, die Einzige, die sagt, was sie denkt. Von seinem neureichen Bruder, gespielt von Arthur Kennedy, wird Hirsh allerdings verachtet. Immerhin lernt er durch ihn die verklemmte, prinzipientreue Schullehrerin Gwen French kennen, die ihn in seinen Schreibbemühungen unterstützt.

Der Minnelli’sche Konflikt, so oft als Antagonismus zwischen Figuren und Lebensanschauungen in seinen Filmen zu finden, erscheint hier in seiner reinsten Form. Frank Sinatra steht nicht nur zwischen zwei Frauen, die sich äußerlich durch Kleidung, Haarschnitt, Makeup und Benehmen unterscheiden und gegensätzliche Formen der Liebe verkörpern, er steht auch zwischen zwei Männern, die unterschiedliche Lebensstile repräsentieren: sein selbstgefälliger, erfolgsverwöhnter und heuchlerischer Bruder und Dean Martin, der erst im Jahr zuvor mit Edward Dmytryks Die jungen Löwen nach 16 (!) Jerry-Lewis-Filmen sein erstes Drama gedreht hatte. Jetzt ist er als sorgloser, zynischer Spieler zu sehen, der – stets einen Stetson auf dem Kopf – ein aufregendes, unkonventionelles Leben mit schnellem Sex und leicht verdientem Geld verspricht, aber auch zu enger Freundschaft fähig ist. Es geht aber auch um den Kampf eines Mannes um seine Kunst, so wie James Jones um seine Kunst kämpfte, und mit dieser Kunst auch um die Rettung seines Lebens. Minnelli erweist sich hier als sensibler Chronist widersprüchlicher menschlicher Gefühle, die unweigerlich in die Katastrophe führen.


"Verdammt sind sie alle" (© IMAGO/Everett Collection
"Verdammt sind sie alle" (© IMAGO/Everett Collection)

Jahrmarkt vor höllengleichem Hintergrund

Doch da ist noch mehr. Der Regisseur überrascht in „Verdammt sind sie alle“ durch aufregende visuelle Ideen, die immer auch Auskunft geben über die Personen, bevor auch nur ein Dialogsatz fällt. So verweist das Neonlicht über Arthur Kennedys Juwelierladen darauf, dass er selbst ein Blender ist, der nicht einmal seinen eigenen moralischen Maßstäben genügt. Bei der Tanzszene in einem Lokal beherrscht Minnelli den Innenraum mit langen Einstellungen und in die Tiefe gestaffelten Bildern, die es erlauben, dass sich die Figuren immer wieder neu formieren. Bunte Lichter über Hotels und Schnapsläden und blinkende Jukeboxen und Flipper locken in ein verführerisches Nachtleben, das sich im Höhepunkt des Films, einer atemberaubenden Jahrmarktsszene, mit höllengleichem Hintergrund, trunkenen, pechschwarzen Schatten, zuckenden Lichtblitzen und drehenden Karusselllampen in einer eleganten, atemberaubenden Kamerafahrt wie eine Explosion entlädt. Mörder, Opfer und Helfer werden virtuos fließend gegeneinander geschnitten, bis schließlich Pistolenschüsse Elmer Bernsteins verstörende Musik, die wir noch vom Anfang kennen, unterbrechen. „It’s like ,The Girl Hunt’ ballet shot with real bullets“, schreibt Stephen Harvey in seinem schönen Buch „Directed by Vincente Minnelli“. Minnelli schnappt hier förmlich über, spektakulär, fast opernhaft, grell und exzessiv deckt er Betrug, Eifersucht, Liebe und Leidenschaft der kleinstädtischen Mittelklasse auf und verwandelt eine reale Kirmes in eine Breitwand-Fantasie.

Umso schöner, beiläufiger und anrührender wirkt darum die kleine Geste, die den Film beschließt: Dean Martin nimmt bei der Beerdigung Ginnys endlich seinen Hut ab, den er die ganze Zeit getragen hatte, und die Kamera schwenkt auf den ruhigen Fluss im Tal, der sich von den tragischen Ereignissen unbeeindruckt zeigt. Er wird so fließen wie immer.


Hinweis

„Verdammt sind sie alle“ ist als VoD-Angebot derzeit bei Amazon Prime, iTunes und CHILI abrufbar. Als Import aus dem europäischen Ausland ist der Film auch auf DVD (teilweise inklusiver deutscher Tonspur) bestellbar.

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