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Archive des Alltags: „Was wir filmten. Filme von ostdeutschen Regisseurinnen nach 1990“

Was machten die DEFA-Regisseurinnen nach 1990? Vor welchen Herausforderungen stehen ostdeutsche Filmemacherinnen heute? Ein Sammelband gibt Aufschluss darüber.

Veröffentlicht am
25. März 2022
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Initiiert durch eine Filmreihe beim Internationalen Frauen* Film Fest 2020 ist der Sammelband „Was wir filmten. Filme von ostdeutschen Regisseurinnen nach 1990“ entstanden, der eine filmhistorische Leerstelle füllen und die Erinnerungskultur vielstimmiger machen will.


Petra Tschörtners Dokumentarfilm „Berlin –Prenzlauer Berg. Begegnungen zwischen dem 1. Mai und dem 1. Juli 1990“ beginnt mit einer Einstellung der filmhistorisch symbolisch aufgeladenen „Ecke Schönhauser“. Von dort setzt sich der Streifzug durch den Szenekiez fort. In der alten Eckkneipe, vor „Konnopkes Imbiss“ oder in der Textilfabrik offenbaren DDR-Bürgerinnen und -Bürger Hoffnungen und Ängste, die sie wegen der bevorstehenden Währungsunion umtreiben. Das Gewohnte scheint sich bereits aufzulösen, die interviewten Menschen wirken fast skurril. Die filmische Ästhetik, mit der die Regisseurin hier auf 35mm-Schwarz-weiß-Material diesen Schwebezustand, den urbanen Rhythmus und die verschiedenen Subkulturen einfängt, assoziiert große Vorbilder wie Walter Ruttmanns „Berlin – die Sinfonie der Großstadt“ oder Dziga Vertovs „Der Mann mit der Kamera“. Wer „Berlin – Prenzlauer Berg“ gesehen hat, fragt sich, warum bloß Petra Tschörtner, die in Babelsberg mit Helke Misselwitz und Thomas Heise studierte, „als Filmemacherin verloren“ gegangen ist, wie Matthias Dell 2012 in seinem Nachruf auf sie schrieb.


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Der Sammelband „Was wir filmten. Filme von ostdeutschen Regisseurinnen nach 1990“ nimmt diese und weitere Fragen, die über die Filmhistorie hinausreichen, in den Blick. Der Schwerpunkt liegt dabei meist auf Dokumentar- und Experimentalfilmen. Die ehemaligen DEFA-Regisseurinnen waren hier im Vergleich zum Spielfilm stärker vertreten, ihre Geschichte und ihre Erfahrungen der Wendejahre sind jedoch bisher weit weniger erforscht. Anders als der Titel suggeriert, wird neben dem ostdeutschen Filmschaffen nach 1990 auch die DDR selbst immer wieder zum Thema.

Die Idee geht auf eine Filmreihe beim Internationalen Frauen* Film Fest Dortmund+Köln im September 2020 zurück. Unter dem Titel „Nach der Wende 1990|2020“ wurden Dokumentarfilme aus drei Jahrzehnten gezeigt, darunter „Bruderland ist abgebrannt“ von Angelika Ngyuen, Tamara Trampes „Der Schwarze Kasten“ oder „Vaterlandsverräter“ von Annekatrin Hendel. Den Abschluss bildete eine „Diskussion unter Filmarbeiter*innen“, die im Sammelband protokollarisch festgehalten ist und um neun Texte ergänzt wurde, die nach dem Festival entstanden sind.

"Der schwarze Kasten" (Johann Feindt)
"Der schwarze Kasten" (© Johann Feindt)

Multiperspektivität

Nachwuchsregisseurin Therese Koppe („Im Stillen Laut“) nähert sich mit einer Analyse von „Herzsprung“ und „Engelchen“ der Filmemacherin Helke Misselwitz an, die als einzige Vertreterin der DEFA-Generation noch heute abendfüllende Filme produziert. Im Gegensatz zu ihrem vielbeachteten „Winter adé“ von 1985 sind diese beiden nach der Wende realisierten Spielfilme aber bisher kaum beachtet worden. Die kürzlich verstorbene Regisseurin Tamara Trampe erzählt von der Genese ihres Dokumentarfilms „Der Schwarze Kasten“, 1992 der erste „Täter-Film“ über den Stasi-Psychologen Jochen Girke. Madeleine Bernstorff – damals Aufnahmeleiterin bei dem im Ost-West-Kollektiv entstandenen Filmdokument „Bahnhof Friedrichstraße 1990“ – trägt Produktionsnotizen ihrer Kolleginnen Lilly Grote, Julia Kunert oder Konstanze Binder zu einer Kollage des Übergangs zusammen. Filmwissenschaftlerin Hilde Hoffmann analysiert Tschörtners „Berlin – Prenzlauer Berg“ und Cornelia Klauß hat in Pionierarbeit die Werdegänge dreier Künstlerinnen aus der experimentellen Super-8-Filmszene recherchiert, die im Westen wie im Osten bisher kaum bekannt sind. Grit Lemke, Regisseurin von „Gundermann Revier“ und Autorin des 2021 veröffentlichten Romans „Kinder von Hoy“, macht sich in ihrem Beitrag dafür stark, die DDR nicht nur von ihrem Ende her zu denken und plädiert dafür, die Idee einer besseren, solidarischen Gemeinschaft nicht zu verwerfen, nur weil ihre Umsetzung in der DDR gescheitert ist.

Mit „Ostalgie“ hat das nichts zu tun, wie die Texte von Angelika Nguyen und Ines Johnson-Spain präzise herausarbeiten. Nguyen, Tochter vietnamesischer Vertragsarbeiter:innen in der DDR, erzählt, wie mit dem Staat auch die sozialistisch verordnete „Völkerfreundschaft“ zusammenbricht. Der bis dato latente Rassismus und Rechtsextremismus, den es in der DDR offiziell nicht geben durfte, brach sich auch mit Unterstützung westdeutscher Neonazis Bahn. Von Rassismus berichtet auch Johnson-Spain. In ihrem sehr persönlichen, autobiografischen Dokumentarfilm „Becoming Black“ (2019) arbeitet sie die eigene Familiengeschichte als schwarze Tochter zweier weißer Eltern in den 1960er-Jahren auf. Erst als Jugendliche fand sie heraus, dass ihr leiblicher Vater ein Austauschstudent aus Togo ist. Über ihre Schwarze Identität, unübersehbarer Beweis für den doppelt tabuisierten Seitensprung der Mutter, wird in der DDR ein Mantel des Schweigens ausgebreitet. Im Text dazu schildert sie auch ihren Marsch durch das deutsche Filmfördersystem. Beide Regisseurinnen weisen eindrücklich auf die weder im antifaschistischen Osten noch im kapitalistischen Westen aufgearbeitete, gesamtdeutsche Kolonialgeschichte hin.

"Becoming Black" (© ZDF/Dr. Armin Gundermann)
"Becoming Black" (© ZDF/Dr. Armin Gundermann)

Filmdokumente als historische Quelle

Die Herausgeberinnen Maxa Zoller und Betty Schiel schälen schon in ihrer Einleitung drei Knotenpunkte des Projekts heraus: Vielfalt der Sprache und Textformen, eine „Ambivalenz der Zuschreibung ost- und westdeutscher Identitäten“ sowie eine „queere Zeitlichkeit“.

Die Vielfalt der Texte ergibt sich aus der Natur des Sammelbands. Die Formate reichen von anekdotisch und biografisch bis zu Filmanalysen und gesellschaftspolitischen Überlegungen. Ambivalenz in der Zuschreibung meint, dass 30 Jahre nach der Wiedervereinigung keine scharfe Trennung zwischen West- und Ostdeutschland mehr vorgenommen wird. Die Autorinnen stammen größtenteils aus Ostdeutschland, sind teilweise aber erst um 1990 herum geboren, weshalb sich ihre ostdeutschen Sozialisationen von denen der DEFA-Regisseurinnen unterscheiden.

Erklärung bedarf der Begriff der „queeren Zeitlichkeit“: Queer wird hier nicht im Kontext sexueller oder geschlechtlicher Identität verwendet. Es geht trotzdem um die Abgrenzung von einer dominanten Norm, nämlich der eines linearen Zeitverständnisses, das Zukunft stets mit Fortschritt gleichsetzt. Die Struktur des Sammelbandes verweigert sich so bewusst einer chronologischen Gliederung, die anhand der Entstehungsjahre der Filme oder entlang der Biografie der Autorinnen denkbar gewesen wäre. Ostdeutsches Filmschaffen der letzten drei Dekaden soll stattdessen „spiralförmig“, in Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie generationenübergreifend dargestellt werden. Auch einer einseitig geschichtswissenschaftlichen Rekonstruktion und dominanten Erinnerungskultur widersetzt sich diese „queere Zeitlichkeit“ und versucht die Film- und Egodokumente ostdeutscher Regisseurinnen als Quellen und Archive des Alltags nutzbar zu machen. Denn fehlen ihre Filme im kollektiven Gedächtnis, gehen mit ihnen auch Perspektiven auf die Geschichte verloren.

Am Katzentisch der Geschichte

Die Texte erzählen auch davon. Die Expertise vieler ostdeutscher Filmemacherinnen wird nach 1990 nicht anerkannt, Geringschätzung und Mitleid sind die Regel. Gefragt und gefördert sind Filme über die Stasi und den Unrechtsstaat, die dann oft aus westlicher Sicht erzählt werden. Ihre Projekte können die Regisseurinnen nur mit langem Atem und meist in Eigenregie realisieren und finanzieren. Aufgeführt werden sie in filmkulturellen Nischen, auf Festivals oder versteckt im nächtlichen TV-Programm. Tamara Trampe oder Angelika Nguyen berichten, wie dann einige ihrer Werke zum 30. Jubiläum der Wiedervereinigung angefragt werden, verzögert und temporär eine breitere Öffentlichkeit erfahren. Das Problem der Zugänglichkeit besteht indes weiter. Während viele DEFA-Filme dank der gleichnamigen Stiftung oder im Online-Archiv des PROGRESS-Verleihs auffindbar sind, gestaltet sich die Suche nach Filmen ostdeutscher Regisseurinnen nach 1990 aktuell noch schwierig.

Durch die Schilderungen der direkt davon betroffenen Künstlerinnen, ergänzt um Gedanken der jungen Generation ostdeutscher Regisseurinnen und Filmexpertinnen entsteht so ein vielstimmiges Mosaik. Was sich flott herunterliest, ist durch die Heterogenität der Texte und die Verweigerung einer chronologischen Struktur eine Herausforderung, ebenso wie die einander widersprechenden Aussagen der Autorinnen, die der Sammelband klugerweise nicht auflöst.
Ein kleines Manko ist das Fehlen eines separaten Index zu den erwähnten Filmen. Denn die detaillierten Schilderungen aus dem Produktionsalltag der turbulenten Wendejahre und die Texte animieren dazu, all diese Filme noch einmal sehen zu wollen. Eine wissenschaftliche Analyse kann und will der Sammelband nicht leisten, Fundgrube und Ausgangspunkt für künftige Filmhistorikerinnen und -historiker ist er allemal.


Literaturhinweis:

Betty Schiel & Maxa Zoller (Hg.): Was wir filmten. Filme von ostdeutschen Regisseurinnen nach 1990. Herausgegeben vom Internationalen Frauen* Film Festival Dortmund I Köln e.V. Bertz & Fischer. Berlin 2021. 208 S., 16 EUR.

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