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Filmklassiker: "Nightmare Alley"

Tyrone Power war im Hollywood der 1940er-Jahre der strahlende Held von Western und Abenteuerfilmen, als er mit dem Film noir „Nightmare Alley“ einen radikalen Image-Wechsel versuchte. Eine Huldigung anlässlich des Kinostarts der Neuverfilmung durch Guillermo del Toro.

Veröffentlicht am
08. Mai 2023
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Es dürfte im Hollywood der 1940er-Jahre nicht oft vorgekommen sein, dass ein großes Studio wie 20th Century Fox einen derart düsteren Film produzierte und verlieh. Düster in seiner Weltsicht, düster in seiner Lichtgebung, düster in seiner Erscheinung, düster in seiner Thematik. Es dürfte auch nicht oft vorgekommen sein, dass ein Star, berühmt geworden als romantischer Held in Abenteuerfilmen und Western, ein Projekt derart forcierte, um sein Image loszuwerden. Und zwar radikal. Tyrone Power (1914-1958) hatte vor dem Eintritt der USA in den Krieg in „Marie Antoinette“ (1938), „Jesse James – Mann ohne Gesetz“ (1938), „Im Zeichen des Zorro“ (1940) und in „König der Toreros“ (1941) gespielt. Jetzt wollte er endlich zeigen, dass er mehr draufhatte, dass er ein Schauspieler mit Anspruch war, dass er einen verdorbenen Charakter in all seinen Facetten ausloten konnte.


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Jahrmarkt scheiternder Existenzen

Der Roman „Nightmare Alley“, 1946 von William Lindsay Gresham als sogenannte „dime store novel“ veröffentlicht, kam ihm da gerade recht. Das Buch erzählt die Geschichte vom Aufstieg und Fall eines Mannes, Stanton Carlisle, der in der Depressionszeit bei einem wandernden Jahrmarkt als Koberer – also als Türsteher – anheuert. Als ihm das Notizheft eines alkoholkranken Gedankenlesers in die Hände fällt, in dem alle Tricks des Wahrsagens stehen, steigt er mit Hilfe zweier Frauen, Zeena und Molly, als Hellseher und Prediger auf.


Jahrmarktskarriere: "Nightmare Alley" (© IMAGO / Everett Collection)
Jahrmarktskarriere: "Nightmare Alley" (© IMAGO / Everett Collection)

Doch dann tut er sich mit einer Psychotherapeutin zusammen, um deren reiche Patienten auszunehmen. Als er sogar Molly, die er inzwischen geheiratet hat, als Geist eines toten Mädchens erscheinen lässt, überspannt er den Bogen und muss sofort untertauchen. Nach einer Odyssee durch die Randzonen der amerikanischen Gesellschaft landet er als gebrochener Mann wieder beim Jahrmarkt – als sogenannter „geek“, der vor Publikum lebenden Hühnern den Kopf abbeißt.

Leidenschaft ebnet dem Stoff den Weg auf die Leinwand

Power war von dieser Geschichte um Erfolgsbesessenheit und Ausbeutung, um Geldgier und Aberglauben, um Neid und Eifersucht derart fasziniert, dass er für 60.000 Dollar, damals eine enorme Summe, die Filmrechte erwarb. Er bot die Geschichte dem Fox-Produzenten George Jessel an, der den Roman zwar nicht gelesen hatte, aber aufgrund einer positiven Rezension das Projekt an Darryl Zanuck, den Produktionschef, weiterleitete.

Zanuck hielt den Roman für unverfilmbar, nicht zuletzt wegen der vielen Stellen, die die Aufmerksamkeit der Zensoren erregen mochten. Power und Jessel setzten sich aber derart leidenschaftlich für „Nightmare Alley“ ein, dass Zanuck schließlich grünes Licht gab. Trotz seines Desinteresses wurden auf dem Studiogelände der Fox neunzig Sets gebaut, nicht zu vergessen die Zahlung der Miete für den Patterson-Yankee-Jahrmarkt, um dem Ganzen einen realistischen Hintergrund zu verleihen. „Nightmare Alley“ ist ein teuer produziertes A-Movie, versteckt unter dem Mantel eines B-Films.

Außergewöhnliche Crew hinter der Kamera

Und nun geschah die nächste Besonderheit: Zanuck engagierte Edmund Goulding als Regisseur. Eine ungewöhnliche Wahl. Gouldings Karriere begann in der Stummfilmzeit, zum Beispiel mit Greta Garbos „Anna Karenina“. Sein bekanntester Film, noch für MGM entstanden, ist Menschen im Hotel (1932), wieder mit der Garbo, dann drehte er bei Warner Brothers Dawn Patrol(1938) mit Errol Flynn, Opfer einer großen Liebe (1939) mit Bette Davis und „Of Human Bondage“ (1946) mit Eleanor Parker, bevor er zur Fox ging und dort, schon mit Tyrone Power, Auf Messers Schneide (1946) inszenierte. Goulding galt als feinsinniger, kultivierter Mann mit gutem Geschmack, seine Spezialität waren sensible Dramen. Nicht gerade der Name, der einem als Erstes einfällt, wenn es um einen Film noir geht. Doch Goulding hatte auch – darauf weist der englische Filmhistoriker Woody Haut hin – eine dunkle Seite. Drogen, Alkohol, Swingerparties, Besetzungscouch-Attitüden und kurze Affären mit Frauen und Männern – trotz morgendlicher Bibellektüre ließ der Regisseur, 1891 in London geboren, nichts aus. Von dieser Getriebenheit Gouldings ist sicher viel in den Film geflossen. „Nightmare Alley“ ist zweifellos sein persönlichstes Werk.


Poster zum Film (© IMAGO / Allstar)
Poster zum Film (© IMAGO / Allstar)

Zwei weitere wichtige Namen knüpfen sich an „Nightmare Alley“. Da ist zum einen der außergewöhnliche Drehbuchautor Jules Furthman, der zuvor die Scripts für Josef von Sternbergs „Die Docks von New York“ (1928) und seine Marlene-Dietrich-Filme „Marokko“ (1930), „Schanghai-Express“ (1932) und „Die blonde Venus“ (1932) sowie Howard Hawks’ „Haben und Nichthaben“ (1945) und „Tote schlafen fest“ (1946) geschrieben hatte. Furthman wusste, wie man eine komplexe Vorlage auf kinogerechte Weise herunterbricht. Mehr noch: Er wusste, wie man die Zensoren in Schach hielt, ohne dem Roman untreu zu werden. Kein einfaches Unterfangen angesichts der Sprache des Buchs, ihrer Offenheit und Direktheit, aber auch der Vielzahl der Themen in den Hintergrundgeschichten, angefangen beim mutmaßlichen Missbrauch von Molly als Kind über eine illegale Abtreibung bis zur Vergewaltigung der Psychologin auf einem dunklen Hinterhof. Die schrecklichsten Details von Greshams Buch hat Furthman ausgelassen.

Expressionistischer Look

Der andere wichtige Name ist Lee Garmes, der ingeniöse Kameramann dieses Films, mit David O. Selznicks Vom Winde verweht (1939) und Duell in der Sonne (1946) berühmt geworden. Für Shanghai-Express erhielt er einen „Oscar“. Garmes ist ganz wesentlich für den expressionistischen Look des Films verantwortlich. Seine Lichtsetzung ist ebenso erstaunlich wie exzentrisch. Zumeist spielt der Film nachts, beängstigende Schatten teilen den Raum des Jahrmarkts mit all seinen Gassen, Zelten, Bühnen und Wohnwagen.

Einmal beleuchtet Garmes den Fond eines Lastwagens mit einer kleinen Lampe als einziger Lichtquelle (das sogenannte „Rembrandt-Lighting“) von unten und trennt so die beiden nebeneinandersitzenden Figuren. Das Büro der Psychologin ist von einem Gitterschatten überzogen, der es wie ein Gefängnis erscheinen lässt: Stanton ist Gefangener seines Schicksals. Nicht zu vergessen das Ende: Molly steht wie ein Geist aus der Vergangenheit in einem Park hinter einem Springbrunnen, der eine kreisrunde, durchsichtig leuchtende Wasserwand bildet. Stilistisch ist „Nightmare Alley“ ein Triumph!

Die Frau ist der Boss

Die Psychologin Dr. Lilith Ritter, dargestellt von Helen Walker, markiert die interessanteste und ungewöhnlichste Beziehung, die Stanton Carlisle mit Frauen eingeht. Schon ihr Äußeres weist auf die dominante Haltung hin, die sie gegenüber Stan einnimmt. Ein strenges Business-Kostüm mit Fliege und engem Bleistiftrock verleiht ihr etwas Androgynes, selbstbewusst und raumgreifend sitzt sie im Bürosessel, die Arme weitab vom Körper auf die Lehnen gelegt. Als sie einmal mit einem Boot an einem Steg anlegt, sieht sie aus wie ein Kapitän: Die Frau ist der Boss. Im Roman lässt sie sich von Stanton einmal die Zehennägel lackieren – der Mann liegt ihr förmlich zu Füßen. Mit eiskalter Intelligenz und seelenlosem Ehrgeiz verfolgt sie ihre eigenen Ziele. Es ist nicht einmal klar, ob Stanton sie mit seiner Feststellung, dass ihre Mutter tot sei, von seinen hellseherischen Fähigkeiten überzeugt hat. Vielleicht erlaubt sie die Feststellung nur, um ihn auf ihre Seite zu ziehen. „Takes one to catch one“, sagt Stanton einmal: Beide stehen sich an verbrecherischer Energie in nichts nach.


Helen Walker mit Tyrone Power (© IMAGO / Everett Collection)
Helen Walker mit Tyrone Power (© IMAGO / Everett Collection)

Dabei ist Lilith Ritter keine Femme fatale im eigentlichen Sinn. Mann und Frau sind hier strikte Geschäftspartner, Sex würde da nur stören – im Gegensatz zum Roman, der es diesbezüglich an Deutlichkeit nicht fehlen lässt. Als sie ihn einmal zu verführen sucht und die Übernachtung in einem Hotelzimmer vorschlägt, lehnt er darum rundheraus ab. „You can’t say I didn’t try“, sagt sie ohne große Enttäuschung. Zuvor hatte sie ihn gefragt, ob er sich jemals einer Psychoanalyse unterzogen hätte. „Nein. Ich habe es einmal im Kino gesehen. Ein guter Hellseher hätte das alles in fünf Minuten herausbekommen.“

Zwischen Rationalismus und Spiritualismus

Dieses Spannungsfeld zwischen ernsthafter Psychotherapie und betrügerischem Wahrsagen, zwischen Rationalismus und Spiritualismus, wird durch Zeena, die Witwe des alkoholkranken Gedankenlesers vom Beginn des Films, angereichert. Sie glaubt an das Kartenlegen, und für Stanton Carlisle stehen die Karten schlecht, sehr schlecht. Ein weiterer Hinweis auf sein deprimierendes Ende. „Ich kann nicht verstehen, wie ein Mann nur so tief sinken kann“, hatte er zu Beginn des Films noch gesagt, als er einen Geek im Zirkus sah, nicht ahnend, dass er am Schluss des Films genauso enden würde.

„Nightmare Alley“ hat die Zuschauer damals schockiert. Edmund Goulding präsentiert eine Welt ohne Moral, in der jeder jeden betrügt, egal ob Jahrmarktsgaukler oder Wahrsager, Psychotherapeuten oder Geschäftsmänner. Auf dem Jahrmarkt geschieht das noch im kleinen Rahmen, der Eintritt kostet wenig, und im Zweifelsfall haben sich die Zuschauer gut unterhalten, obwohl sie betrogen wurden. Doch Stanton will mehr, er will aufsteigen, reich werden. Skrupellos verfolgt er sein Ziel, die 150.000 Dollar, die Lilith für ihn aufbewahrt, sind für ihn nur Peanuts. „He reached too high“, sagt jemand über ihn. Es sind die letzten Worte des Films. Der Roman endet allerdings schon vorher. Stanton wird vom Jahrmarktsdirektor die Stelle des Geeks angeboten, seine lakonische Antwort „Mister, I was made for it“ ist bereits eine Erfindung des Drehbuchautors. Düsterer geht es kaum, und darum bestand Zanuck auf einem hoffnungsvolleren Schluss. Dass Tyrone Power, einer der damals größten Stars Hollywoods, keine Möglichkeit zur Reue und Erlösung erhält, war für ihn undenkbar. Darum wird Stanton von Molly, seiner Ehefrau, gerettet. Doch seine Verzweiflung lässt sich nicht durch ein Happy End vertreiben.

Über allem schwebt natürlich der Geist von William Lindsay Gresham. Er schrieb nur noch einen Roman, „Limbo Tower“ (1949). Zuvor, 1942, hatte er die Schriftstellerin Joy Davidman geheiratet, eine Ehe, die Gresham durch seinen Alkoholismus und seine Affären immer wieder auf die Probe stellte. 1952 verliebte er sich zu allem Überfluss in die Cousine seiner Frau. Joy reichte die Scheidung ein und heiratete ihren Mentor, den englischen Schriftsteller und Literaturwissenschaftler C.S. Lewis. Diese Ehe und Joys früher Krebstod waren übrigens Gegenstand von Richard Attenboroughs Drama „Shadowlands“ (1993). Eigentümlich, wie sich hier zwei völlig unterschiedliche Filme, im Abstand von 46 Jahren entstanden, berühren. Auch Gresham selbst erkrankte an Krebs. Am 14. September 1962 nahm er sich im Dixie Hotel in der Nähe von Coney Island, dort, wo er „Nightmare Alley“ geschrieben hatte, das Leben. Der einzige Nachruf stand in der „New York Times“. Aufstieg und Fall eines Mannes: William Lindsay Gresham und Stanton Carlisle teilen dasselbe Schicksal.


Heimkino- und Literaturhinweis:

Wegen langjähriger Streitigkeiten zwischen den Erben von Gresham und Jessel war „Nightmare Alley“ lange nicht zu sehen. 2005 ist er als DVD erschienen. Inzwischen gibt es auch eine Blu-ray-Edition der Criterion Collection. Außerdem ist er bei YouTube zu sehen. Der Roman von William Lindsay Gresham ist im Dezember 2021 auf deutsch bei Heyne erschienen. Die Neuverfilmung des Stoffs durch Guillermo del Toro startet am 20.1.2022 im Kino.

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