Zwischen
1976 und 1991 drehte Ulrich Weiß nur fünf lange Spielfilme. Die Kritik
bezeichnete ihn als einen Maverick, einen verkannten Außenseiter: „einen Tabu-
und Regelbrecher, der in keine Zeit und keine Gesellschaft passte“ (Erika
Richter). Unter anderen, besseren Bedingungen hätte sein Werk als provokante
Inspiration für viele gelten und das deutsche Kino wesentlich beeinflussen und
fördern können.
Schon als Schüler hatte Ulrich Weiß Bücher von Georges Sadoul, Charlie Chaplin oder Béla Balázs gelesen. Sein erstes „Filmstudio“ stand im Schlafzimmer der Mutter in einem kleinen Ort hinter den Bergen. Dort produzierte der Sechzehnjährige einen Film über Ereignisse zur Jahrhundertwende. Ein Babelsberger Hochschullehrer, dem er das Ergebnis zeigte, attestierte ihm zwar gute Beobachtungsgabe und Kameraführung, wies ihn aber zugleich darauf hin, dass er sich doch lieber an Gegenwartssujets ausprobieren sollte.
So lernte Ulrich Weiß erst einmal das Fotografenhandwerk, wurde Betriebsfotograf bei der Wismut, Kameraassistent beim DDR-Fernsehen und dann Student an der Filmhochschule in Babelsberg, in den Fachrichtungen Kamera und Regie. Sein Diplomfilm „Paragraph 14“ (1968) porträtierte zwei junge Männer, die im Jugendwerkhof beginnen, über sich selbst nachzudenken: Das Leben am Scheideweg, die Suche nach Vertrauen. Später, im dokumentarischen Feuilleton „Zum achtenmal“ (1972), beschrieb er den Besuch Espenhainer Arbeiter in einem Konzert durch eine konsequent optische Erzählweise: ohne Kommentar, dafür mit lyrischen, auch grotesken Bildeinfällen.
Die Bilder zwischen den Zeilen
Bereits hier wurde Weiß‘ künstlerisches
Prinzip deutlich: „Realität interessiert ihn nur als Basis, als Absprung, als
Anregung. Er sucht Klarheit im Abstand, in der poetischen Verdichtung, im
poetischen Detail. Wichtig ist ihm der Gedanke, die Idee, umgesetzt in ein
Bild, ein Zeichen“ (Renate Stinn). Innerhalb der DEFA war das ästhetisch
wegweisend, wurde aber auch als Gefahr empfunden. Wer zu entscheiden hatte, ob
Stoffe von Ulrich Weiß verfilmt würden, hatte nicht nur auf die Dialoge des
Drehbuchs zu achten, sondern musste immer die Bilder zwischen den Zeilen
mitdenken. Und gerade die entsprachen oft nicht der gewünschten ideologischen
Eindeutigkeit. Beim Stoff „Tanz im Volkshaus“ aus den späten 1970er-Jahren, an
dem er sehr hing, weil er die politische und erotische Atmosphäre seiner Jugend
damit zu verdichten hoffte, vermochte er die DEFA-Direktion nicht von seiner
Idee zu überzeugen, als Hauptfigur einen Jungen mit „absolutem Gehör“ zu
wählen. Wie, so wurde gefragt, solle „absolutes Gehör“ denn filmisch
transparent gemacht werden?
Für die Ablehnung war es vermutlich aber noch mehr ausschlaggebend, dass Weiß die Musikstile der 1950er-Jahre aufeinanderprallen lassen wollte; die DEFA-Leitung witterte in seinem Vorschlag eine Art nachholenden Antistalinismus, was sie nicht verantworten zu können glaubte. So blieb „Tanz im Volkshaus“ ebenso ungedreht wie etwa ein Science-Fiction-Film nach Sewer Gansowski oder ein Film über und nach Strindberg, den Weiß als sehr teures, fellineskes Zeitbild konzipiert hatte.
Weiß war ein Freigeist. Mit seinen Arbeiten suchte er DEFA-Traditionen aufzubrechen, klassischen Genres neue Facetten abzuringen. „Tambari“ (1976), für junge Zuschauer konzipiert, ist aus der subjektiven Perspektive eines Fischerjungen erzählt. Dessen Träume von der weiten Welt stehen im Kontrast zu den verwinkelten Gassen des Heimatdorfes und der geistigen Enge seiner Bewohner: das Dekor als Spiegel der Seelen. Der Vorwurf, der Film verzerre den sozialistischen Alltag, folgte auf dem Fuße.
1979 erschien „Blauvogel“, die Geschichte eines weißen Kindes, das von Irokesen geraubt wird und als Fremder unter „Indianern“ aufwächst. Kein konventioneller „Indianerfilm“, sondern eine nachdenkliche philosophisch-ethnographische Studie zum Thema Heimat – mit dem deutlichen Fingerzeig, den Lebensraum des Menschen nicht zu zerstören.
Ein Universum aus Zäunen und Gittern
Am meisten schieden sich die Geister freilich an „Dein unbekannter Bruder“ (1982) über antifaschistische Widerständler kurz nach der Machtübernahme Hitlers. Dem Pathos früherer DEFA-Widerstandsfilme setzte Weiß die Ängste eines Illegalen (Uwe Kockisch) gegenüber, der sich sowohl von den immer mehr erstarkenden Nazis als auch vor Verrätern in den eigenen Reihen fürchtet – und auch selbst kurz davor war, zum Verräter, zum Judas werden zu können.
Gemeinsam mit dem Kameramann Claus Neumann und dem Szenenbildner Paul Lehmann baute der Regisseur eine Welt aus Metaphern. Durch den Film zieht sich ein Universum aus Zäunen und Gittern, aus dem es kein Entrinnen gibt; die Hakenkreuzfahnen, die aus den Fenstern hängen, werden immer größer und bedrohlicher; ein schreiender Zwerg befehligt eine Horde marschierender SA-Männer. Die DDR-Zeitschrift „Der antifaschistische Widerstandskämpfer“ titulierte ihre als Rezension getarnte Anklage gegen den Film mit: „So waren wir nicht“ und schrieb: „Vergebens wartet man darauf, wenigstens einen Hauch Optimismus und Siegesgewissheit zu spüren.“ Eine Einladung des Festivals in Cannes blieb von Seiten des DDR-Kulturministeriums unbeantwortet. Weiß, der auch international von sich reden hätte machen können, wurde ausgebremst.
1983 drehte er noch „Olle Henry“ mit Michael Gwisdek als Preisboxer, der aus dem Zweiten Weltkrieg heimkehrt, jeglicher Gewalt abschwört und dann doch wieder in den Ring geht. Eine existentielle Novelle, mit einem auf einem Abstellgleis stehenden Eisenbahnwaggon als Spielort: Symbol einer Zwischenzeit, die alles Künftige noch im Nebel, aber schon jetzt eigentlich keine Hoffnung lässt.
„Kino kann nicht nur gedacht werden“
Danach konnte Ulrich Weiß keinen Film mehr realisieren; manche wurden erst kurz vor Drehbeginn abgesagt. Unbemerkt von den DEFA-Chefs schrieb er 1988 ein Drehbuch für seine westdeutsche Kollegin Maria Knilli: „Follow Me“, die Odyssee eines tschechischen Philosophieprofessors, der nach dem Prager Frühling zunächst als Totengräber in der Heimat, dann als Gepäckmann auf einem westeuropäischen Flughafen arbeitet. Ein Traktat über Exil und Rückkehr, die Fremde, das Heimweh, die Trauer über verlorene Ideale. Thematisch war dies auch eine Erinnerung an sein Heinrich-Heine-Porträt „Meine Waffen sind nicht gebrochen, nur mein Herze brach“, das er 1972 fürs DDR-Fernsehen gedreht hatte.
Die Unmöglichkeit, Filme zu realisieren, machte Ulrich Weiß krank: „Kino kann nicht nur gedacht werden, es muss gemacht werden. Ich muss es sehen“, sagte er einmal im Interview. Immer erdrückender wurden die Bilderwelten in seinem Kopf, ohne Chance, sie herauszulassen. Erst 1991, im allerletzten Anlauf, ermöglichte ihm die DEFA als Wiedergutmachung doch noch einen Film: „Miraculi“, eine verschlüsselte Parabel über einen jungen Mann, der in einer Umbruchszeit aus allen Bindungen fällt, und zugleich über den globalen Umgang des Menschen mit der Natur. Das war als Film so weit entfernt von allen gängigen Bildwelten des aktuellen Kinos, dass er vom Publikum kaum noch wahrgenommen wurde.
Während der Dreharbeiten zeigte sich, dass aus der psychischen Krankheit, an der Ulrich Weiß litt, auch Ängste erwuchsen, das Handwerk und den Tagesablauf nicht mehr bewältigen zu können. Sein nächstes Projekt, „Abschied von Agnes“ ging dann schon in die Hände seines Hauptdarstellers Michael Gwisdek über, der an seiner Stelle die Regie führte.
Ein Rebell mit blauen Augen
Abgesehen von einem Dokumentarfilm, „Der Abstecher“ (1992), Bruchstücke aus der Zwischenwelt der Wiedervereinigung, hat Ulrich Weiß später nie mehr gedreht. Die Babelsberger Filmhochschule verpflichtete ihn ein paar Jahre lang als Lehrer. Im Jahr 2010 begleitete er im Berliner Kino Arsenal eine Retrospektive fast aller seiner Filme als Gesprächspartner. Noch einmal zeigte er sich in seinem Element: mit lebendigen blauen Augen und dichtem krausen Haar, jungenhaft gestikulierend, fantasiereich reflektierend. Danach zog er sich wieder in sein Dorf nahe Potsdam zurück.
Am 3. Mai ist Ulrich Weiß kurz nach seinem 80. Geburtstag verstorben.