© Zeitsprung Pictures (Albrecht Schuch in "Lieber Thomas")

Kino gegen den Stream (II) - Das Gespenst der Freiheit

Plädoyer für eine andere Filmpolitik, die nicht länger serielle Produktionen fördert, sondern wirklich radikale, künstlerische Werke ermöglicht

Veröffentlicht am
02. Februar 2023
Diskussion

Mit „Lieber Thomas“ hat die deutsche Filmakademie gerade ein seltenes Kunstwerk prämiert. Die Kulturstaatsministerin Claudia Roth forderte bei der Gala sogar ein radikales Kino. Dennoch muss man die Filmbranche, der es dank einer rein wirtschaftlich aufgestellten Förderung besser denn je geht, zum Jagen tragen. Nie wurde mehr produziert, und selten kam dabei so wenig Gutes heraus. Plädoyer für eine andere Filmpolitik.


Der deutsche Film befindet sich einer schweren Krise. International ist er praktisch unsichtbar. In Cannes war er nicht einmal in einer Nebensektion vertreten, während ein so kleines Land wie Belgien mit drei Preisen für drei verschiedene Wettbewerbsfilme nach Hause ging. Aber auch im eigenen Land sind deutsche Filme aus dem kulturellen Diskurs weitgehend verschwunden. Anders als in der großen Krise während der frühen 1960er-Jahren, die schließlich zur Gründung der Filmförderung führte, regt sich allerdings kaum Gegenwehr. Der Grund ist einfach: Eine weitgehend wirtschaftlich orientierte Filmförderung ernährt die Branche gut; künstlerische Kriterien spielen bei der Mittelvergabe kaum eine Rolle. Qualität wird in den Budgets nicht eingepreist, sie lohnt schlicht nicht. Serienförderung bevorzugt Fließbandware gegenüber aufwändigeren Einzelwerken. Sollte es den Kinomachern gelingen, aus der Corona-Krise herauszukommen, bieten immer weniger Filme gute Gründe, sich vor der großen Leinwand zu versammeln.

Das heißt allerdings nicht, dass sich die deutschen Filmpreise 2022 (und mit ihnen die drei Millionen Preisgeld aus der Staatskasse) über schlechte Filme ergossen hätten. Die rund 1300 Mitglieder der Filmakademie – nur in Deutschland stimmen die potenziell Begünstigten selbst über ihre Staatspreise ab – bewiesen Geschmack. Viel Auswahl hatten sie freilich nicht: Andreas Kleinerts bewundernswertes Künstlerporträt „Lieber Thomas“ heimste neun Preise ein, zwei „Lolas“ blieben für „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“; die bronzene „Lola“ für den drittbesten Film bekam „Große Freiheit“, der 2021 immerhin in Cannes zu sehen war, wenn auch offiziell für Österreich. Gleichwohl wollte kaum jemand bei der Gala das offensichtliche Problem beim Namen nennen. Wie in den Vorjahren wurde mehr über die vergesslichen Holprigkeiten und versandeten Witze der Moderation geredet als über die wahren Probleme: eine Filmkultur in der Krise und eine Filmförderung, die nichts daran tut, dass sich etwas ändert.


Gute Filme brauchen Zeit

Wenn der Rückgang des Publikums überhaupt erwähnt wurde, dann als Folge der Pandemie. Doch es ist ein Teufelskreis. Je mehr das Publikum seine früheren Gewohnheiten hinterfragt, je weiter sich Streamingdienste in den Alltag drängen, desto mehr kommt es auf die Qualität jedes einzelnen Kinofilms an. Es ist der qualitative Niedergang, der immer weniger Anreize schafft, ins Kino zu gehen. Ironischerweise aber nicht weniger Anreize, Filme zu produzieren. Denn die Förderstrukturen machen es Produzierenden einfacher, schlechte statt gute Filme zu produzieren. Obwohl die Filmförderung in Deutschland bei der Staatsministerin für Kultur angesiedelt ist, spielt bei der Vergabe der Gelder – anders als etwa in Österreich – eine künstlerische Evaluierung praktisch keine Rolle. Bei der Mittelvergabe wird auch nicht berücksichtigt, dass künstlerische Filme im Gegensatz zu Unterhaltungsfilmen anders budgetiert werden müssen. Sie brauchen vielleicht weniger Spezialeffekte und ein kleineres Team am Set, dafür aber eine jahrelange Drehbucharbeit und längere Drehzeiten. Die belgischen Dardenne-Brüder drehen ihre Filme eben nicht in 28 Tagen herunter, sondern proben und drehen jede Szene so lange, bis alles stimmt – auch wenn es 60 Tage dauert.

12 Jahre von der ersten Idee bis zum fertigen Film: "Lieber Thomas" (Zeitsprung Pictures)
12 Jahre von der ersten Idee bis zum fertigen Film: "Lieber Thomas" (© Zeitsprung Pictures)

Gute Filme brauchen Zeit. 12 Jahre lang dauerte die Produktion von „Lieber Thomas“ seit der ersten Idee, und man hörte die Bitterkeit in der Dankesrede des Produzenten Till Derenbach, der den Film mit Michael Souvignier für die Kölner Firma Zeitsprung realisierte: „Man bekommt für relevante, große, für politische, für wichtige Filme in diesem Land einfach nicht genug Geld zusammen. Es tut mir leid, dies einmal sagen zu müssen, aber wir haben diesen Film mit einem verdammt sch…-kleinen Budget gemacht.“


Es wird viel produziert, aber wenig Gutes

Kulturstaatsministerin Claudia Roth steht derzeit für ihre Novellierung des Filmfördergesetzes in der Kritik. Während in Frankreich Streaming-Anbieter dazu verpflichtet werden, in Kinoauswertungen ihrer Produkte zu investieren, erhöhte Roth den Etat des hauptsächlich für Serienproduktionen konzipierten German Motion Picture Fund um 15 Millionen auf 90 Millionen Euro – fast dem Doppelten des Fördervolumens für Filmproduktionen von Filmförderungsanstalt (FFA) und Deutschen-Filmförderfonds (DFFF) zusammen. Wer also in Deutschland Kinofilme machen möchte und erst recht anspruchsvolle, muss sich in Bescheidenheit üben – und auf das Geld verzichten, das man mit seriellen Produktionen so viel einfacher und schneller verdienen kann. Nie wurde in den letzten Jahren so viel produziert wie jetzt, und selten kam dabei so wenig Gutes heraus. Nichts anderes lehrt - trotz der Qualität ihrer wenigen Gewinner - die Verleihung des diesjährigen Deutschen Filmpreises, auch wenn man bei der Filmakademie alles dafür tut, durch äußere Glanzlosigkeit von der inneren abzulenken.

Gern hätte ich mit Claudia Roth über ihre Filmpolitik gesprochen. Schon vor vier Wochen bat ich um ein Interview, das dann vor zwei Wochen abgelehnt wurde. Auch gegenüber anderen Medien hat die Kulturstaatsministerin bislang kaum über ihre Haltung zum deutschen Film gesprochen. Bei der Filmpreisgala sagte sie immerhin einen wichtigen Satz: „Kunst und Kultur und Kino müssen sich etwas trauen […]. In dieser Zeit brauchen wir Haltung, brauchen wir Künstlerinnen und Künstler, die auch unbequem sind, die herausfordern. Kinos sind doch so viel mehr als Lichtspielhäuser. Kinos sind Orte der Begegnung und des gesellschaftlichen Austauschs […]. Glauben Sie mir, ich werde in meiner Funktion alles versuchen, Ihnen diese Freiräume zu schaffen und zu erhalten. Ja, es geht um Freiheit und auch das ist Teil meiner Jobbeschreibung. Was Sie alle angeht: Zeigen Sie Haltung, seien Sie auch unbequem und verteidigen Sie ihre demokratische Freiheit gegen alle reaktionären Kräfte hier und überall auch.“


Alles auf Anfang?

Eigentlich könnte es damit doch wie in der Filmsprache heißen: Alles auf Anfang. Denn auch vor 55 Jahren war das politische Klima düster. Es tobte der Vietnamkrieg, Israel führte den Sechs-Tage-Krieg. Die Studentenproteste steuerten ihrem Höhepunkt entgegen, der Prager Frühling kam und wurde totgeschlagen. Genau in dieser Zeit, am 22. Dezember 1967, verabschiedete der Deutsche Bundestag ein Filmfördergesetz. Es war als Werkzeug gedacht, um Qualität gegenüber den rein wirtschaftlichen Interessen der Industrie zu stärken. Heute dient die Filmförderung primär der Industrie, während sie die Arbeit künstlerischer und entsprechend arbeitsaufwändigerer Filme erschwert.

Da ist es nicht ohne Ironie, dass sich mit „Lieber Thomas“ die Mitglieder der deutschen Filmakademie mehrheitlich für einen Film entschieden haben, dessen hoher Anspruch in ihrem beruflichen Alltag die Ausnahme ist. Und dessen Thema überdies um den individuellen künstlerischen Überlebenskampf in eben jener Zeit kreist, als im Westen die Filmförderung gegründet wurde. Und im Osten staatliche Zensoren den Aufbruch im Keim erstickten wollten.

Während in vielen Ländern Osteuropas das moderne Kino explosionsartig aufblühte, blieb es in der DDR äußerlich still. Kaum jemand im Westen konnte ahnen, dass 1966 dort Meisterwerke entstanden wie „Jahrgang 45“ von Jürgen Böttcher oder „Spur der Steine“ von Frank Beyer. Versteckt in den Giftschränken der DEFA, erlebten sie erst nach der Wende gefeierte Premieren. Ein Loch in der Filmgeschichte aber lässt sich nicht mehr stopfen. Welche Wirkung hätten diese „Tresorfilme“ haben können, wenn sie zu ihrer Zeit jemand gesehen hätte? Welchen „Jungen (ost-)deutschen Film“ hätten sie inspirieren können?

Wer in der DDR zur 1968er-Generation zählt, verbindet ihre oder seine Kinoerinnerungen stattdessen mit dem brav-bunten Musicalzauber von „Heißer Sommer“. Angela Merkels erklärter Lieblingsfilm ist „Die Legende von Paul und Paula“, der romantische Kultfilm von 1973, vertont von den staatstragenden Puhdys. Wer in der DDR aufwuchs, musste sich mit dem bisschen Jugendkultur zufriedengeben, das die Parteikader gerade noch erlaubten.


Eine DDR-Nouvelle-Vague, die es niemals gab

Andreas Kleinerts Film „Lieber Thomas“ sieht wie ein Stück DDR-Nouvelle-Vague aus, die es niemals gab. Ein junger Mann schreibt Gedichte auf einen nackten Frauenkörper, ausgebreitet über die ganze schwarz-weiße Leinwandbreite von CinemaScope. Oder besser: „Totalvision“, wie die DEFA ihren Nachbau des US-Filmformats nannte. Solch ein Film über einen jungen Dichter wäre ein Klassiker geworden, mit ikonischen Liebesszenen und pointierten Momenten kleiner Rebellion. Thomas Brasch, gespielt von Albrecht Schuch, brettert mit dem Fahrrad über das Ostberliner Pflaster, auf dem Lenker seine Freundin Katharina, verkörpert von Jella Haase. Barock-Musik, wie sie auch Truffaut gewählt hätte, gibt der Szene ihren Swing. In einer anderen Szene sieht man ihn mit einer anderen Freundin, der Kommilitonin Sylvia (Emma Bading), an der Filmhochschule einen Christbaum schmücken – mit einem Spruchband: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“. Ein Schelm, der im Rosa-Luxemburg-Wort eine Provokation vermuten würde. Auch wenn es diesen unechten DEFA-Film nie gab, ist doch der Dichter darin unvergessen.

Gedicht auf einem nackten Frauenkörper: "Lieber Thomas" (Zeitsprung Pictures)
Gedicht auf einem nackten Frauenkörper: "Lieber Thomas" (© Zeitsprung Pictures)

1968 wurde Brasch wegen Verteilens von Flugblättern gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Es ist der Klang der Peitsche, die sich mit dem Zuckerbrot abwechselt, der in „Lieber Thomas“ den Rhythmus vorgibt. Der Stil ist fragmentarisch und dennoch homogen im verhalten-respektvollen Ton der Darstellerführung und kurzen, wirkungsstarken Agitprop-Momenten. Der in Ost-Berlin gebürtige Filmemacher Andreas Kleinert weiß, wovon er erzählt: Zwischen 1984 und 1989 studierte er selbst in Babelsberg.

Die immense Laufzeit von 156 Minuten von „Lieber Thomas“ wirkt noch zu kurz: Gern hätte man mehr über Braschs eigenes Filmwerk erfahren, das erst ab 1980 in Westdeutschland entstand. 1976 hatte er einen Ausreiseantrag gestellt und war mit Freundin Katharina und Tochter Anna nach West-Berlin gezogen.

So ist der verhinderte Künstler fast präsenter als der später erfolgsverwöhnte. Als einer von wenigen Deutschen hatte er zwei Filme im Wettbewerb von Cannes, „Engel aus Eisen“ und „Der Passagier – Welcome to Germany“. Nur am Rande streift der Film diese Erfolge in einer sehr schönen Miniatur – und wieder wirkt Brasch wie der Zaungast eines verhinderten Lebens. Während der Premiere trifft er im Foyer auf seinen Vater, der für das Kulturministerium der DDR das Festival besucht. „Neben der Zeit“ heißt ein früherer Film von Andreas Kleinert, und dahin scheint es auch diesen Künstler bei aller Aktualität seines Wirkens zugleich verschlagen zu haben.


Warum hat das deutsche Kino international keine Stimme?

Befindet sich das deutsche Kino vielleicht gerade auch in einem Zustand neben der Zeit? Warum hat es international gerade jetzt, in einer Zeit, die genug existentielle Fragen stellt, international keine Stimme? In den schwersten Zeiten blühte oft die Filmkunst. Selbst in Diktaturen fanden und finden Filmemacherinnen und Filmemacher immer wieder überraschende Nischen künstlerischer Freiheit. In der deutschen Freiheit entsteht dagegen nur sehr wenig radikales Kino. Warum das so ist, weiß jeder in der Branche selbst. Alles an der deutschen Filmförderung ist darauf ausgerichtet, mit dem Strom zu schwimmen.

Claudia Roth begann ihre Karriere in der Kulturarbeit 1982 als Managerin von „Ton, Steine, Scherben“. Einer ihrer Songs könnte auch die Situation des deutschen Films beschreiben. Er heißt „Warum geht es mir zu dreckig?“ Abgesehen davon, dass es ja den meisten der in der deutschen Filmakademie organisierten Mitgliedern wirtschaftlich derzeit so gut wie selten geht. Es ist schon paradox, die Sache mit der Freiheit.

„Soll ich morgen abhauen und gehen, wohin ich will?/ Soll ich die Papiere holen und machen, was ich will?/ Soll ich mir’n Schuß machen und von allem nichts mehr sehen?/ Ich möchte endlich frei sein, aber wohin soll ich gehen?“

Vor 55 Jahren wurde das erste Filmförderungsgesetz erlassen. Die damit gegründete Filmförderungsanstalt hatte als erste Aufgabe, „die Qualität des deutschen Films auf breiter Grundlage zu steigern“. Heftige Debatten waren dem vorausgegangen. 1962 unterzeichneten junge Filmemacher, darunter die heute noch aktiven Alexander Kluge und Edgar Reitz, das „Oberhausener Manifest“. Im Jahr zuvor hatte Joe Hembus sein berühmtes Pamphlet „Der deutsche Film kann gar nicht besser sein“ veröffentlicht. Der Marktanteil heimischer Filme belief sich damals auf stolze 32,6 Prozent, aber es ging den Reformern um künstlerische Qualität. Dabei entstanden noch immer Klassiker wie „Die Halbstarken“ oder Kurt Hoffmanns „Spukschloss im Spessart“. Der Deutsche Filmpreis wurde 1961 allerdings nicht vergeben - die Jury fand einfach keinen preiswürdigen Film. Das könnte und sollte heute natürlich nicht passieren. „Lieber Thomas“ ist ein großartiger Film, den man noch in vielen Jahren sehen wird. In seiner künstlerischen Form steht er jenem Kino nahe, das durch die Filmförderung der 1960er-Jahre ermöglicht wurde und in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren Weltgeltung errang – dem Autorenkino des Neuen Deutschen Films.


Die Schattenseite des Neuen Deutschen Films

Die Schattenseite jener Glanzzeit des Neuen Deutschen Films war eine Abwertung des Unterhaltungsfilms bis hin zur Marginalisierung so innovativer und persönlicher Filmemacher wie May Spils, Roland Klick oder Ulrich Schamoni. Aber man muss das ganze Bild sehen; es gab eben auch radikales Genrekino, es gab Uli Edel und Eckhart Schmidt, außerdem anspruchsvolle Publikumsfilme von Dominik Graf und Doris Dörrie, deren „Männer“ Kassenrekorde aufstellte und zugleich noch heute aktuelle Gender-Themen debattierte. Es folgte in den 1990er-Jahren eine Aufbruchstimmung, die viele gleichermaßen künstlerische wie Genre-affine Stimmen hervorbrachte, Caroline Link, Tom Tykwer, Hans-Christian Schmid oder Christian Petzold und Maren Ade. Nun erleben wir, dass der Autorenfilm in ähnlicher Weise marginalisiert wird, wie zu Zeiten des Neuen Deutschen Films das Genrekino.

"Radikales Kino": Man sollte die Kulturstaatsministerin Claudia Roth beim Wort nehmen (imago/Eventpress Fuhr)
"Radikales Kino": Man sollte Claudia Roth beim Wort nehmen (© imago/Eventpress)

Allerdings nicht aus ästhetischen Gründen, sondern aus einem falsch verstandenen Wirtschaftsdenken. Zwar erwirtschaftet fast keiner der derzeit in Deutschland produzierten Filme Gewinn, aber darum geht es auch gar nicht. Sie füttern eine Filmwirtschaft, die sich durch die Subventionswirtschaft bestens ernährt, aber die Mehrkosten anspruchsvoller Werke nur noch in Ausnahmefällen leistet.


Ist das Fernsehen schuld?

Spricht man mit der Produktionsseite, werden dafür immer wieder die Fernsehanstalten verantwortlich gemacht. „Wenn kein Sender dabei ist, kann man nichts produzieren“, ist ein oft gehörtes Argument. Dabei hat das alte Film- und Fernsehabkommen, dem man die Werke von Fassbinder, Wenders oder Reitz verdankt, schon lange ausgedient. Die Sender haben kaum noch Bedarf für künstlerische Filme. Programmplätze wie „Das kleine Fernsehspiel“ zeigen fast keine Experimente mehr, redaktionelle Linien, wie sie etwa der verstorbene Joachim von Mengershausen im WDR besetzte, enden mit der Pensionierung der Verantwortlichen. Was also sucht das Fernsehen noch in den Vergabegremien der Filmförderanstalten?

Gewiss, auch die wenigen, auf internationalen Festivals noch immer gefragten Werke der Berliner Schule entstehen mit Senderbeteiligung. Doch man vermisst eine angemessene Positionierung dieser Filme im Fernsehen, die Wertschätzung vermitteln und beim Publikum Gefallen wecken würde. Denn wie soll ein Publikum nachwachsen, das jenes satte Angebot an großem Kino nie erlebt hat, welches die öffentlich-rechtlichen Sender einmal boten? Lange konnte man dagegen einwenden: Die jungen Leute sehen sowieso nicht mehr fern. Aber jetzt nutzen sie die Mediatheken, ein Medium, das bislang von allen deutschen Sendern vor allem der Kulturkanal „arte“ ansprechend und nutzerfreundlich anbietet.

Lieber Thomas“, dessen Kinostart am 11. November 2021 sehr unter der Pandemie litt, brachte es bis zum April 2022 lediglich auf 62.702 Zuschauer. Nun liegt es auch an den Sendern, die ihn mitproduzierten, NDR, BR, WDR und arte, ihn so in den Programmen zu platzieren, dass er doch noch ein Publikum findet. Auch das ist ein jährlich wiederkehrender Eindruck der Fernsehgala „Deutscher Filmpreis“, die diesmal erst Stunden nach der Bekanntgabe der Gewinner ausgestrahlt wurde: dass dem deutschen Fernsehen das Kino fremd geworden ist, wie umgekehrt auch das Fernsehen in der Kinobranche viel an Ansehen und Respekt verloren hat. Bereits Studierende verinnerlichen an ihren Hochschulen die Präferenzen der Sender und finden wenig Anreiz, radikale, eigenständige und fordernde Positionen zu entwickeln.

Eine Unterstützerin allerdings bot sich bei der deutschen Filmpreisverleihung an: Claudia Roth. Nun ist es Zeit, sie mit ihrem Plädoyer für ein radikales Kino beim Wort zu nehmen. Noch spricht ihre Förderpolitik allerdings eine andere Sprache.


Kommentieren