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Skizzen aus der Zauberwelt - Werner Herzog

Zum 80. Geburtstag von Werner Herzog: Das Erinnerungsbuch „Jeder für sich und Gott gegen alle“

Veröffentlicht am
15. September 2022
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Am 5. September 2022 wird der deutsche Filmemacher Werner Herzog 80 Jahre alt. Das war für ihn Anlass, autobiografische Skizzen zusammenzutragen, die nun als Erinnerungsbuch „Jeder für sich und Gott gegen alle“ erschienen sind. Statt eine große Bilanz zu ziehen, widmet sich Werner Herzog bekannten und weniger bekannten Episoden seines Lebens und Werks, Vorbildern und Wegbegleitern, wobei ihn insbesondere unfertige Projekte umtreiben. So ergeben sich auch für eingefleischte Herzog-Kenner immer wieder überraschende Lese-Enthüllungen.


Seine Ehefrau Lena habe ihm geraten, seine Erinnerungen aufzuschreiben, sagte kürzlich Werner Herzog, der am 5. September 2022 seinen 80. Geburtstag feiert. „Sonst macht’s irgendein ,Hansel‘ und du bist unzufrieden.“ Unter diesem leichten Druck und begünstigt durch die Corona-Zeit, in der Filmprojekte nicht gerade leicht umzusetzen waren und deshalb viel Zeit blieb, entstanden eher unerwartet autobiografische Skizzen, die sich weder zu einem runden Bild des eigenwilligsten deutschen Filmemachers fügen wollen, noch sensationell Neues verkünden.

Dennoch setzen sie sein – neben dem filmischen – eher schmales literarisches Werk fort, das von „Vom Gehen im Eis“ (1978) über den langen Fußmarsch zur „Rettung“ von Lotte Eisner bis zu „Das Dämmern der Welt“ (2021) reicht, eine kleine Novelle über den eigensinnigen Japaner Onoda Hiro, der in der Annahme, der Zweite Weltkrieg dauere an, bis 1974 auf der kleinen philippinischen Insel Lubang ausharrte.


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Eine launige literarische Plauderei

Anekdotisch und anspielungsreich beginnen diese Erinnerungen mit Rückblicken auf die Kindheit in Armut und Entbehrung im oberbayerischen Sachrang, die im Rahmen einer launigen literarischen Plauderei aber stets schnell in Bezüge zu seinem Werk einmünden und etwa davon berichten, wie er zu seiner „Bühnenstimme“ fand, nämlich durch Filmberichte für Gerhard Konzelmann beim Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart, bei denen er auch vor der Kamera auftreten musste.

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Am deutlichsten ist diese Stimme in dem Dokumentarfilm „Die Höhle der vergessenen Träume“ (2010) über die urzeitlichen Chauvet-Höhlen als genuiner Bestandteil der filmischen Erzählung zu entdecken oder in den „vergifteten“ Interviews mit Mördern in „On Death Row“ (2012), wo diese Stimme Verführung und Untersuchungsinstrument zugleich ist.

Gleiches gilt vor allem auch für seine jüngsten Filme „Theatre of Thought“ über die Entschlüsselung der Geheimnisse des menschlichen Gehirns und seine Hommage auf die verstorbenen französischen Vulkanologen Katia und Maurice Krafft in „The Fire Within“. Beide Filme waren noch nicht zu sehen, schließen aber die im Buch aufgelistete Filmografie ab.


Skizzen zu Abgebrochenem, Unerledigtem und Unfertigem

In diesen „Erinnerungen“ schlägt Herzog immer wieder weite Bögen und wählt als Titel denjenigen seines Kaspar-Hauser-Films von 1974, ohne ihn mit dem Verdacht zu überfrachten, er allein enthalte die Summe seines Werks. Summieren und Bilanzieren sind ohnehin nicht Herzogs Sache. Lieber reißt er Bekanntes oder weniger Bekanntes an und entwickelt daraus ein Geflecht von Tagebuchskizzen, die man schon anderswo erfahren hat, spitzt sie aber erneut gekonnt zu, um Abgebrochenes, Unerledigtes und Unfertiges aufs Tapet zu hieven.

So bekommt man eine ungefähre Ahnung davon, wie die produktive filmische Ideenwerkstatt im Alltag bei Herzog funktioniert. Neben seiner Familie, insbesondere Herzogs Produzentenbruder Lucki Stipetic, ziehen sich zwei Figuren durch die versammelten Erinnerungen: Quintus Fabius Maximus und Bruce Chatwin. Der eine war der Befehlshaber der römischen Legionen, die sich Hannibal entgegenstellten und ihn in einen unerbittlichen Abnutzungskrieg zwangen, bis sie ihn, der schon als sicherer Sieger galt, schließlich doch bezwangen. Als chronischen Zögerer, als „Cunctator“, der stets die heroische offene Feldschlacht vermied, erklärt ihn Herzog mehrfach zu seinem ausgesprochenen Vorbild, seinem Heroen. Dem anderen, dem Schriftsteller Bruce Chatwin (1940-1989), ist Herzog immer wieder real begegnet. Herzog teilt Chatwins Vorliebe fürs Gehen und besitzt sogar einen Rucksack des Briten. So finden sich eine Reihe von Herzogs poetischen Wanderprotokollen beim Überqueren der Alpen in diesem Buch, als er Chatwins Rucksack auf seinem Rücken bei sich führte.

Herzogs Kaspar-Hauser-Film von 1974 wird im Titel des Erinnerungsbuchs aufgegriffen (© IMAGO / KHARBINE-TAPABOR)
Herzogs Kaspar-Hauser-Film von 1974 wird im Titel des Erinnerungsbuchs aufgegriffen (© IMAGO / KHARBINE-TAPABOR)

Ein Füllhorn aufregender Filmideen

Im Kapitel „Unerledigtes“ klagt er zwar, dass sowohl die Verleiher wie auch die Kinos verschwunden seien, die für seine Filme in Frage kommen, skizziert aber gleichzeitig ein Füllhorn aufregender Filmideen an, die er noch realisieren möchte: etwa einen Film mit dem Boxerkönig Mike Tyson, einen über die Merowinger-Dynastie der frühen fränkischen Könige oder über den irischen König Sweeney, welcher der Legende nach mitten in der Schlacht immer leichter wurde und einfach davonflog. Lauter typische Herzog-Geschichten, von denen der 80-jährige Fabulierer so voll ist, dass er das Buch auch mitten in der poetischen Beschreibung einer Welt ohne jedwede Bilder und Menschen mitten im Satz einfach abbrechen lässt, und zwar in dem Moment, in dem ein Kolibri am Fenster aufblitzt, wie er schon in der Einleitung ankündigt.

Ein schöneres Geschenk zu seinem 80. Geburtstag hätte er sich und uns Lesern und Filmliebhabern nicht machen können, als Einblick in seine ganz persönliche Zauberwelt, in der es zwischen Realität und Fantasie keine deutliche Trennscheibe gibt. Da freut man sich auf seinen nächsten Film doch gleich umso mehr.


Literaturhinweis

Werner Herzog: Jeder für sich und Gott gegen alle. Erinnerungen. Hanser Verlag, München 2022. 350 S., 28 EUR. Bezug: In jeder Buchhandlung oder hier.

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