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Um die Ecke in die Welt - Wolfgang Kohlhaase

Nachruf auf den begnadeten Erzähler und Drehbuchautor Wolfang Kohlhaase (13.3.1931-5.10.2022)

Veröffentlicht am
11. November 2022
Diskussion

Zwei Dinge kennzeichneten den begnadeten Erzähler und Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase: sein sinnlich-poetisches Verhältnis zur Welt und ein nicht nachlassendes Interesse für Menschen. In seinem langen Schaffen ging es ihm stets darum, das Komplexe und das Populäre miteinander in Beziehung zu setzen, Brücken zwischen ernster Kunst und lustiger Unterhaltung zu schlagen. Im Alter von 91 Jahren ist Wolfgang Kohlhaase jetzt in Berlin gestorben.


Berlin – Ecke Schönhauser“, „Der schweigende Stern“, „Ich war neunzehn“, „Solo Sunny“: Wolfgang Kohlhaase war als Drehbuchautor an einigen der wichtigsten Filme der DEFA beteiligt. Über sieben Jahrzehnte hinweg verfasste Kohlhaase gut 40 Drehbücher und Szenarien, schrieb als Autor auch Prosa, Theaterstücke und Hörspiele. Nach der Wende hielt er vor allem durch die Zusammenarbeit mit Andreas Dresen („Sommer vorm Balkon“ und „Als wir träumten“), aber auch mit dem Drehbuch zu Matti Geschonnecks „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ ostdeutsche Perspektiven im deutschen Film sichtbar. 2010 erhielt Kohlhaase für seine Filmarbeiten bei der „Berlinale“ einen Ehrenbären. Am Mittwoch, 5. Oktober, ist Wolfgang Kohlhaase mit 91 Jahren in Berlin gestorben.


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Ost-Berlin, Ende der 1950er-Jahre. Jugendliche tanzen unter den Aufgängen des S-Bahnhofs Schönhauser Allee Rock’n’Roll; einer von ihnen soll als Mutprobe eine Laterne kaputtmachen. Es entspinnen sich Verhandlungen über den Lohn für die Mutprobe: „’ne Mark is’ viel zu wenig. Reicht ja noch nimma fürs Kino.“ „Na gut, ’ne Mark West.“ Dass die Anfangsszene des DEFA-Halbstarkenfilms „Berlin – Ecke Schönhauser“ von Gerhard Klein so deutlich Berliner Luft atmet, liegt nicht zuletzt an den Dialogen von Wolfgang Kohlhaase. Der „Meister lässiger Lakonie“ (Gustav Seibt) sagte über seine Anfänge als Drehbuchautor: „[...] aller Anfang ist Nachahmung. Als ich mal angefangen habe, waren für mich die Neorealisten enorm wichtig.“ Kohlhaases Drehbücher waren von Anfang an von Wirklichkeit durchdrungen. Wie die italienischen Vorbilder ließ er es sich aber nie nehmen, diese Wirklichkeit künstlerisch zu übersetzen; außerdem fügte sie sich nie in ideologische Schubladen. „Wenn die FDJ auf der Leinwand erscheint, gibt es im Kino Gelächter“, moniert 1957 eine Leserzuschrift in der Zeitschrift „Junge Welt“ zu einer Aufführung von „Berlin – Ecke Schönhauser“. Kohlhaases Wirklichkeiten konnten weh tun.

„Berlin – Ecke Schönhauser“ war der „Halbstarken“-Film der DDR (© Progress)
„Berlin – Ecke Schönhauser“ war der „Halbstarken“-Film der DDR (© Progress)

Versuche, die Welt zu zeigen

Der 1931 in Berlin geborene Sohn eines Maschinenschlossers landet mit 19 Jahren nach ersten Stationen bei der Jugendzeitschrift „Start“ und dem FDJ-Organ „Junge Welt“ bei der DEFA. Ab 1953 arbeitete er mit dem Regisseur Gerhard Klein zusammen, mit dem er sieben Filme realisierte. Die ersten Werke in der gemeinsamen Zusammenarbeit sind dem Leben junger Menschen zwischen beiden Teilen Berlins gewidmet. Zwei Westberliner Jungs träumen von einer Karriere als Boxer, doch ihnen fehlen die Boxhandschuhe („Alarm im Zirkus“, 1954); eine HO-Verkäuferin träumt davon, Mannequin zu werden, und geht mit ihrem Freund nach Westberlin, scheitert dort aber und kehrt zu den Eltern im Ostteil der Stadt zurück („Eine Berliner Romanze“, 1956). Zwei Jahre später folgte „Berlin – Ecke Schönhauser“.

Ihr letzter gemeinsamer Film „Berlin um die Ecke“ (1965/66) handelt von einer Gruppe junger Metallarbeiter im geteilten Berlin. Nach dem Kahlschlagplenum der SED im Dezember 1965 wurde „Berlin um die Ecke“ aber verboten und erst 1987 in einer Rohschnittfassung aufgeführt. Anlässlich der Präsentation verbotener DEFA-Filme auf dem Forum der „Berlinale“ 1990 wurde der Film schließlich fertiggestellt. Damals sagte Kohlhaase zur Intention des Films: „Vielleicht sollte man die Filme, die Mitte der 1960er-Jahre bei uns gedreht wurden, im Zusammenhang mit der damals entstandenen Literatur sehen, als Versuch, die Welt zu zeigen, in der wir lebten, die man aushalten musste und die man möglicherweise auch verändern konnte. Wir wollten ungeklärte Fragen ins öffentliche Bewusstsein rücken. Moral kann nur öffentlich funktionieren.“ Die Veränderbarkeit der Welt und öffentliche Moral gehörten in der Kulturpolitik der SED nach 1965 dann nicht mehr zu den Themen, über die man sich Diskussionen wünschte.


Die langen 1990er-Jahre

Auf die Zusammenarbeit mit Gerhard Klein folgten Kooperationen mit Konrad Wolf und Frank Beyer. Mit Wolf entstanden einige der bekanntesten und besten Filme der DEFA wie „Ich war neunzehn“ (1968), „Mama, ich lebe“ (1977) oder „Solo Sunny“ (1979) über eine junge Sängerin mit großem Drang nach Freiheit. Für Beyer schrieb er 1982 nach einer Romanvorlage von Hermann Kant „Der Aufenthalt“ über einen jungen deutschen Kriegsgefangenen, dem im Nachkriegspolen Kriegsverbrechen vorgeworfen werden. Der junge Mann landet in einem Kriegsgefangenenlager und findet sich unter unbelehrbaren Nazis wieder.

Renate Krößner als Sängerin in „Solo Sunny“ (© Progress)
Renate Krößner als Sängerin in „Solo Sunny“ (© Progress)

Kohlhaases Drehbücher vor 1989 und die Filme, die danach entstanden, machen in gewisser Weise das Wesen des DEFA-Films sichtbar: ein weitgehend realistisches, später vermehrt naturalistisches Kino, das von der Narration bestimmt wird.

Zwei spätere Filme mit Beyer begleiten Kohlhaases Übergang in die Zeit nach dem Fall der Mauer. Die ost-west-deutsche Co-Produktion „Der Bruch“ über den fehlgeschlagenen Versuch, Lohngelder aus einem Reichsbahntresor zu stehlen, wurde 1987 gedreht. Beyer und Kohlhaase interessierten allerdings weniger die Kriminalhandlung als vielmehr die Milieus und die Lebensläufe im Berlin der Nachkriegszeit. Zehn Jahre später adaptieren Beyer und Kohlhaase „Der Hauptmann von Köpenick“ von Carl Zuckmayer für das Fernsehen. Damit kam Kohlhaase im deutschen Filmbetrieb nach 1990 an, in dem weitgehend die westdeutschen Gepflogenheiten fortgeführt wurden. Auch die besten DEFA-Filmschaffenden sahen sich nach der Wiedervereinigung großen Schwierigkeiten gegenüber. In den langen 1990er-Jahren ging es zunächst darum, ostdeutsche Filmschaffende in der nun gesamtdeutschen Filmindustrie einen Raum finden und vereinzelte Wendegeschichten erzählen zu lassen. Erst Andreas Dresens „Sommer vorm Balkon“ aus dem Jahr 2004 markiert in der Werkbiografie von Wolfgang Kohlhaase das Ende dieser Phase.


Die Kraft der Erzählung

Die Drehbücher von Wolfgang Kohlhaase verbinden präzise Beobachtungen mit vielschichtigen Figuren und entwerfen komplexe Situationen in eingänglichen Formen. In einem Werkstattgespräch zu „Solo Sunny“ wies Kohlhaase die Trennung in ernsthafte Filme und bloße Unterhaltung zurück: „Es ist fürchterlich, wenn zwei Filmleute sich streiten, in welchen Film die Leute aus besseren Gründen nicht gegangen sind. Es muss Schluss sein mit der stolzen Trennung: Wir machen Filme für das Bewusstsein, die anderen die für den Spaß.“

Mit „Sommer vorm Balkon“ startete Kohlhaase noch eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit Andreas Dresen (© imago images/United Archives)
Mit „Sommer vorm Balkon“ startete Kohlhaases Zusammenarbeit mit Andreas Dresen (© imago images/United Archives)

Es lohnt sich, Kohlhaases umfangreichem Werk für den Film und in der Prosa immer wieder neu gegenüberzutreten. Erfreulicherweise wurden seine Schriften zum Film vor einiger Zeit von Günter Agde in gesammelter Form herausgegeben. Seine Erzählungen hat der Berliner Verlag Wagenbach gerade veröffentlicht. Ob in seinen Drehbüchern oder seinen Erzählungen: Kohlhaase beharrte stets auf die Kraft der Erzählung und auf zugänglichen Formen. Die Kunst von Wolfgang Kohlhaase, Komplexität und populäre Form miteinander zu versöhnen, wird dem deutschen Kino fehlen.

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