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Das Uhrwerk in uns - Cyril Schäublin

Ein Interview mit Cyril Schäublin zu seinem Film „Unruh" über ein Uhrmacherstädtchen im schweizerischen Jura, wo in den 1870er-Jahren ein Zentrum des Anarchismus entsteht.

Veröffentlicht am
29. März 2023
Diskussion

Der 1984 geborene Schweizer Filmemacher Cyril Schäublin entwirft Gesellschaftsporträts der ungewöhnlichen Art. Menschen erscheinen bei ihm oft nur an den Rändern der Einstellungen, während Architektur und Landschaft den Fokus einnehmen. Nach seinem dystopisch wirkenden Zürich-Film „Dene wos guet geit“ (2017) ist sein zweiter Spielfilm „Unruh“ (ab 5.1. im Kino) ein Historiendrama um ein Uhrmacherstädtchen um 1870, in dem Arbeiter, Unternehmer und Anarchisten aufeinandertreffen. Ein Gespräch über Nebenschauplätze, Geister vor Fabriktoren und kapitalisierte Liebe.


Unruh“ und „Dene wos guet geit“ scheinen auf den ersten Blick Gesellschafts- und Zeitbilder zu sein, die den Schicksalen ihrer Protagonist:innen folgen. Tatsächlich konzentrieren sich Ihre Filme aber weniger auf individuelle Perspektiven, sondern umkreisen die Kollektive und Strukturen, die sie umgeben. Was interessiert Sie an diesen Strukturen?

Jede Erzählung trägt eine Struktur in sich oder behauptet ein System. Damit nimmt sie natürlich auch Bezug auf bestehende Strukturen und Systeme. Und so wie jede Struktur und jedes System ein Zentrum hat, hat es auch Ränder und Marginales. Ich finde es spannend, zu diesen Rändern vorzustoßen. Wenn ich mein eigenes Leben und die Menschen um mich herum betrachte, sehe ich oft, dass Grenzen verschwimmen und sich im Zusammensein etwas Neues bildet, das wir etwa durch Sprache weiterzudenken versuchen, auch wenn Worte oder gar Begriffe wie Identität dafür total unzulänglich sind. Weil mich eben dieser Austausch interessiert, der an den Rändern stattfindet, sind auch unsere Filme darum gebaut. Man könnte ihre Plots Alibihandlungen nennen. Der Enkeltrick in „Dene wos guet geit“ oder die Reise des russischen Anarchisten in „Unruh“ bilden die Lebensadern der Filme, aber eigentlich gleitet alles immer wieder in Richtung der Nebenschauplätze ab. Dorthin, wo zunächst nichts wichtig erscheint, aber natürlich alles wichtig ist, weil das Leben ja auch an den historischen oder gesellschaftlichen Rändern stattfindet. Man ist immer noch hier, auch wenn man ein Passwort diktiert oder in einer Fabrik Geld zählt. Das sind Momente, die mir genauso bedeutsam erscheinen, wie zum Beispiel ein Plot Twist in einer anderen Erzählung.


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Die Bilder, die Sie gemeinsam mit Kameramann Silvan Hillmann entwerfen, sind oft statische Totalen, die den Menschen an die bereits angesprochenen Ränder drängen, während Architektur oder Natur das Zentrum des Kaders dominieren. Ist das eine bewusste Dezentralisierung?

Ich finde es spannend, wie sich Bilder der Sprache entziehen. Es gibt keine absolute Form, über ein Bild eine Aussage zu treffen, und natürlich versuche ich trotzdem, mit Silvan über Bilder zu sprechen. Wir wählen, glaube ich, nicht bewusst Bilder, um etwas zu dezentralisieren, aber wir versuchen auf den Ausflügen, auf denen wir Bilder und Motive suchen, auch dem Material zuzuhören und zuzuschauen – den Straßen, den Wänden, den Kaminen – und uns zu fragen: „Was ist da los?“ Oft finden sich die dazugehörigen Bilder dann wie von selbst ein. Das ist vielleicht eine Übertragung von der Idee, die ich bereits ansprach: In jedem Bild, in jedem physikalischen System kann ein Zentrum behauptet werden, und es gibt marginale Bereiche. Der Austausch zwischen beiden ist oft das, was sich in unsere Filme einschleicht und vielleicht den Blick lenkt.

"Dene wos guet geit" (© déjà-vu film)
"Dene wos guet geit" (© déjà-vu film)

Wenn die Filme mit der Stasis brechen, ist das oft deutlich erkennbar. Das Ende von „Unruh“ ist ein prägnanter Kameraschwenk, und in „Dene wos guet geit“ schweift die Kamera wieder und wieder bewusst ins Leere ab.

Wir führen das Bild sehr gerne an diese Nebenorte. Das letzte Bild von „Unruh“ ergab sich für uns konkret aus der Frage des Blicks. Wohin guckt man? Was bedeutet die Entscheidung, irgendwo hinzuschauen? Der Schwenk verdeutlicht möglicherweise diese Entscheidung. Deswegen wollte ich auch einen sichtbaren Ruck am Anfang der Kamerabewegung, also keine elegante und flüssige Bewegung, sondern die spürbare Idee eines Menschen, der hier sozusagen die Segel rumreißt, also eine Entscheidung trifft. Im Hinterkopf hatte ich dabei auch Pjotr Kropotkins Ideen aus „Gegenseitige Hilfe“. Ein Werk, in dem er, als Reaktion auf Darwins Idee vom „Kampf ums Dasein“, lediglich Hilfssysteme der Natur aufführt. Natürlich kreist auch Darwins Werk mitunter um solche Hilfssysteme, aber eben nur am Rande. Das ist auch eine Frage der Zuwendung: Wem wendet man sich zu, wem schenkt man seinen Blick – den Kampfsystemen oder den Hilfssystemen? So drückt der letzte Schwenk des Films auch die Entscheidung aus, den Blick der Maschine oder eben dem Wald zuzuwenden.

Ihre Filme sind auch immer wieder um besondere Formen der Sprache konstruiert. Immer wieder verbalisieren Menschen dort Zahlen, Codes, Transaktionen etc. Was kommuniziert sich in diesen Vorgängen, das sich in Worten nicht kommuniziert?

Ich glaube, dass unsere Filme etwas zu benennen versuchen, für das es vielleicht gar keine klare Benennung gibt, eine Art von kapitalistischer Mythologie. Fast alle, die wir in Europa leben, performen diesen Mythos jeden Tag: wir tätigen unzählige Transaktionen, müssen vor Maschinen unsere Identität beglaubigen, Passwörter eintragen etc. Bei genauerem Hinsehen erscheint es ja geradezu verrückt, dass wir diese „Sprache“ so oft sprechen und sie uns zugleich völlig unwichtig erscheint. Sie ist völlig an die Ränder unseres Bewusstseins gedrängt. Ich glaube aber, dass in diesen Momenten viel geschieht, dass sich unser Menschsein darin vielleicht förmlich abwickelt.

Filmemacher Cyril Schäublin (© Seeland Filmproduktion)
Filmemacher Cyril Schäublin (© Seeland Filmproduktion)

Als ich nach längerer Zeit im Ausland nach Zürich zurückgekehrt bin, hatte ich ein Studio direkt neben einem alten Freund und konnte ihm so einmal dabei zuhören, wie er mit seiner Bank telefoniert. Das zwanzigminütige Gespräch hat mich sehr belustigt, kam mir aber zugleich auch tragisch vor (lacht). Dieses ständige Buchstabieren von Geburtsdaten, Passwörtern etc. hat mich irgendwie berührt, gerade weil es ein Mensch ist, der das alles macht. Es gibt in meinen Filmen eine Distanz zwischen dem Körper, über den wir verfügen, der Technologie und der kapitalistischen Organisationsform selbst. In unserem Umgang mit Technik, sei es mit den Händen, der Mimik oder der Sprache, steckt meiner Ansicht nach viel Komödie und gleichzeitig auch viel Tragik.

Sie haben es bereits angesprochen: Ihre Filme fokussieren oft auf Schnittstellen zwischen Körper und urbaner Umgebung. Immer wieder zeigen Sie Kartenlesegeräte, Türcode-Panels oder Bankautomaten. Lässt sich eine Gesellschaft aus diesen Schnittstellen rückentwickeln?

Diese Objekte sind im gewissen Sinne Übertragungen unserer Organisationsformen. Was ich eben kapitalistische Mythologie genannt habe, ist ja auch eine Geisterbeschwörung: Menschen stehen um 6 Uhr 45 vor der Fabrik, vor der Maschine, der sich nun ihre Körper anzugleichen haben. Unsere Versuche, uns in dieser Welt zurechtzufinden, sei es mittels Sprache oder eben auch mittels Technologie, scheinen mir noch am Anfang zu stehen. „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“, heißt es bei Wittgenstein. Auf die Technik übertragen, erscheinen mir unsere Versuche, deren Grenzen zu fassen, ebenso brüchig. Trotzdem haben wir natürlich die Städte, durch die wir uns bewegen, und die Technologie, mit der wir leben, und all das funktioniert irgendwie. Aber wie genau das funktioniert, erscheint mir sehr geheimnisvoll.

Das eigentlich Verrückte dabei ist, dass die behauptete Ordnung, in der wir uns jetzt befinden, ja viel brüchiger und unkontrollierbarer ist, als wir uns das vorstellen. Wenn ich in Cafés, Bars oder Restaurants Menschen miteinander interagieren sehe, erscheint es mir völlig klar, dass es für ihr Beisammensein keine Ordnung gibt. Die Fragilität der von uns akzeptierten Strukturen ist möglicherweise viel größer, als es im Moment wahrnehmbar scheint. Wenn man zurück in die 1870er blickt, stellt man sich oft bitterernste Typen vor, die wichtige Entscheidungen treffen. Die Vergangenheit wird besonders im Film oft als Abfolge konkreter, gesetzter und wichtiger Vorgänge präsentiert, aber natürlich verändert sie sich, je nachdem welcher Perspektive man Raum zugesteht. Ich glaube, dass es in der Gegenwart nicht anders ist. In diesem Sinne haben die 1870er und unsere Zeit viel gemeinsam, denn es ist auch heute noch unklar, ob etwa unsere Gesellschaftsformen und Nationalstaaten das finale Gebilde einer globalen Gesellschaft sind.

"Unruh" (© Grandfilm/Seeland Filmproduktion)
"Unruh" (© Grandfilm/Seeland Filmproduktion)

Spielt die Schweiz als ein solches Gebilde eine spezielle Rolle in Ihren Filmen?

Sie spielt eine Rolle in ihrer Selbstbehauptung, eine Rolle zu spielen. Ich wünsche mir, eben diese Behauptung zu dekonstruieren. Die Behauptung eines Orts- und Staatsgebildes und die darumgezogenen Mauern sind natürlich etwas Konstruiertes, zu dem man Fragen stellen kann. Was habe ich zu tun mit acht Millionen Schweizer Staatsbürgern? Geht es vielleicht eher um die Leute, die mich konkret umgeben und mit denen ich mich austausche? Wem ist man zugehörig, ist eine Frage, die sich heute ebenso stellt wie die Frage, wie man Arbeit organisiert. Wenn man im 19. Jahrhundert eine unverheiratete Arbeiterin ist, die keinen Zugang zu Krankenabsicherung hat, die ihre Entlassung riskiert, wenn sie sich einer anarchistischen Kooperative anschließt, die aber eben ihre einzige Möglichkeit auf eine solche Absicherung bietet, dann stellt sich die Frage nach einem Zugehörigkeitsverhältnis anders als bei einem verheirateten Vorarbeiter, der am Wochenende ins Schützenhaus geht, die Nationalhymne singt und sich zur Nation der Schweiz bekennt. Ich glaube, das ist heute genauso. Es gibt immer Menschen, die nicht Teil unserer standardisierten Organisationsformen sind. In beiden Filmen, in Vergangenheit und Gegenwart, sind die Menschen geprägt von neuen Technologien, die auch ein Abbild davon sind, wie wir uns organisieren: unser Wissen, Informationen, Zugehörigkeiten und Teilhabe.

In der Vergangenheit, die „Unruh“ zeigt, scheinen Objekte mitunter auch etwas Sinnliches zu haben. Es gibt eine Szene gegen Ende des Films, in der die Arbeiterin Josephine dem Anarchisten Pjotr die Unruh, also das Feder-Schwingsystem des Uhrwerks, beschreibt, als wäre es ein Teil ihrer Selbst.

Die Szene ist von den Gesprächen inspiriert, die ich mit meinen Großtanten und meiner Großmutter geführt habe. Sie haben mir erklärt, wie die Unruh funktioniert, was ich bis heute nicht verstanden habe (lacht). Sie alle haben ihr Leben lang an Uhrwerken gearbeitet und sie alle haben mir erzählt, dass sie auch nachts von ihrer Arbeit träumten. „Was macht das mit deinem Wesen und deinem Körper, wenn man das jeden Tag macht?“, ist eine der Fragen, der ich einen Raum schenken wollte.

"Unruh" (© Grandfilm/Seeland Filmproduktion)
"Unruh" (© Grandfilm/Seeland Filmproduktion)

Zum anderen stehen sich in dem Moment, in dem die Maschine beschrieben wird, ja trotzdem zwei Menschen gegenüber, die einander anblicken und dabei zusehen, wie Liebe zwischen ihnen entsteht, auch wenn das nicht ausgesprochen wird. Es gibt diesen Satz von Arthur Rimbaud: „L’amour est à réinventer.“ („Die Liebe muss neu erfunden werden“). Ich glaube, dass allein die Begegnung zwischen zwei sich liebenden Menschen bereits etwas unheimlich Transformatives ist, und es war mir wichtig, dies in den Film einzuladen. Es war mir genauso wichtig, die Kapitalisierung dieser Liebe zu zeigen. Im Film werden Fotografien von Anarchistinnen verkauft und der Wert dieser Fotografien steigert sich, wenn es eine Liebesbeziehung zwischen ihnen gibt. Letztlich wird ja auch der Wert eines Films gesteigert, wenn eine Liebesgeschichte darin vorkommt. Ich wollte, dass diese Liebesgeschichte eben dort stattfindet, wo sie geheimnisvoll ist und der Film vielleicht gar nicht mehr zulänglich ist, sie zu zeigen.

Die prominente Rolle der Fotografie, die Zeit als zentrales Gestaltungsmoment und die oft über die diegetische Welt hinausgreifenden Szenen lassen Ihre Filme auch immer wieder wie Reflexionen über das Filmemachen erscheinen.

Ich wünsche mir immer eine sichtbare Klarheit der Konstruktion. Ich möchte immer auch mitreflektieren, dass der Film ein Konstrukt ist, wie jede Geschichte und auch die Geschichtsschreibung selbst Konstruktionen sind. Ich möchte nicht, dass mir das Publikum auf den Leim geht, sondern es einladen, einen Blick zu teilen und sich gemeinsam umzuschauen.

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