© Netflix/Magnus Nordenhof Jønck (aus „Copenhagen Cowboy“)

Stil ist Substanz

Die Ästhetik von Nicolas Winding Refn

Veröffentlicht am
15. Januar 2023
Diskussion

Mit „Copenhagen Cowboy“ ist auf Netflix seit 5.1.2023 ein neues Werk von Nicolas Winding Refn verfügbar, sein zweites Serienprojekt nach „Too Old To Die Young“. Der dänische Filmemacher gilt manchen als Egozentriker, der nicht mehr könne, als neonfarbene Albträume aus Sex und Gewalt zu drehen. Doch in Refns Stilwillen steckt weit mehr als reine „Neon Noir“-Oberflächlichkeit, nämlich eine besondere Form filmischer Poetik, die über ihre Form stets auch über ihre Codierung nachdenkt. Eine Würdigung.


Nicolas Winding Refns Gewinn des Regie-Preises in Cannes liegt nun bereits über zehn Jahre zurück. „Drive“ war für den dänischen Filmemacher zweifellos der große Triumph – die Welt lag ihm und seiner von Neonfarben durchfluteten Liebesgeschichte zu Füßen. Ryan Gosling gab den schweigsamen Stuntfahrer, der nachts die Fluchtautos für allerlei Gangster lenkt; die perfekte Maschine, präzise wie ein Uhrwerk. Ausgerechnet dieser von faszinierender Einsamkeit umwehte Kerl verliebt sich, und eine vage Hoffnung auf ein anderes Leben breitet sich aus. Doch die Welt des Verbrechens und der Gewalt hat einen festen Griff: Die Welten der Liebenden sind letztlich unvereinbar – trotz Dreampop und Synthie-Zärtlichkeiten.

Bis heute unvergessen ist die Fahrstuhlszene, in der es Refn versteht, zarte Romantik und brachiale Gewalt derart kunstvoll miteinander zu verschränken, dass die ganze Tragik des Films hier ihre ästhetische Form findet: Das Schwelgerische zerbirst unter den Tritten, mit denen der Driver einen Auftragskiller ins Jenseits befördert. Irene (Carey Mulligan) steht völlig fassungslos außerhalb des Fahrstuhls. Die Türen schließen sich. Nein, ein Happy End wird es für dieses ungleiche Paar nicht geben.

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Style over Substance?

Wenige Jahre später hat sich die Perspektive auf das Schaffen von Refn jedoch gewandelt. Der Ruhm in Cannes glänzt zwar noch ein wenig nach; immer noch ist der Filmemacher bei internationalen Festivals präsent. Seine Werke werden tendenziell aber mehr und mehr als redundanter Output eines Egozentrikers abgetan, der sich an den immer gleichen Fetischen abarbeitet: neonfarbene, hochstilisierte Albträume voller Sex und Gewalt. Viele glauben es bereits zu kennen, den Refn-Code durchschaut zu haben. „Style over Substance“ ist jene Kritikerfloskel, die spätestens ab „Only God Forgives“ regelmäßig herangezogen wird, um sich dieses sicherlich extravaganten Regisseurs zu entledigen: Letztlich tue da einer nur so, als würde er etwas Tiefgründiges erzählen; hinter den übergroßen Bildern finde sich aber kein Plot, der das offensive Spiel mit der Form in Sinn gründen ließe.

Nicolas Winding Refn (© Nikolaj Thaning Rentzmann / Netflix)
Nicolas Winding Refn (© Nikolaj Thaning Rentzmann / Netflix)

Am deutlichsten war diese Haltung an den Reaktionen gegenüber Refns Amazon-Serie „Too Old to Die Young“ abzulesen. Diese wahrlich epische Reise in die Seele Amerikas, dessen von missbräuchlicher Männlichkeit erfüllte Landschaft nur noch von Gespenstern und toten Mythen bevölkert wird, wurde von der großen Mehrheit vehement abgelehnt.

Erzählt wird darin in betörenden Bildern von einer dreifachen Bewegung der Rache. Der Cop Martin (Miles Teller) wird durch den Mord an seinem Kollegen aus der Bahn geschleudert und schließt sich dem mysteriösen Rächer Viggo (John Hawkes) an, der Triebtäter und Pädophile zur Strecke bringt. Er selbst hat derweil eine Liaison mit einer 17-jährigen. Zeitgleich versucht Jesus (Augusto Aguilera), in die Fußstapfen seiner von Martin ermordeten Mutter Magdalena zu treten und die Geschäfte der mexikanischen Mafia in L.A. mit gewissenloser Brutalität an sich zu reißen. An seiner Seite die wortkarge Yaritza (Cristina Rodlo), die sich bald schon als die eigentliche Hauptfigur herausstellen und einen Feldzug im Namen der Frauen beginnen wird.

Jetzt, da mit „Copenhagen Cowboy“ die neue Serie des Dänen bei Netflix abrufbar ist, bietet es sich an, dieser negativen Rezeption eine andere Lesart entgegenzuhalten. „Too Old to Die Young“ eignet sich hervorragend, um die Ästhetik von Nicolas Winding Refn zu kartographieren. Geht man zudem noch zurück bis zu „Fear X“, jenem Film, bei dem sich zum ersten Mal der eigenwillige Stil des Regisseurs gezeigt hat, ergibt sich das Bild eines Künstlers, der eine ganz klare Vorstellung von seinem Schaffen verfolgt.


Radikaler Expressionismus: Raum als eindringlicher Ausdruck

Die Neonästhetik und der treibende Electro-Synth-Score von Filmkomponist Cliff Martinez mit dem Refn seit „Drive“ immer wieder zusammengearbeitet hat, mögen dem US-Debüt „Fear X“ noch abgehen. Dennoch stellt der Film von 2003 die Emanzipation des Nicolas Winding Refn vom roh-brachialen Frühwerk, von Filmen wie „Pusher“ (1996) und „Bleeder“ (1999) dar. Auf diese Bewegung zum eigenen Stil folgte allerdings eine Unterbrechung, weil die finanzielle Situation den Dreh zweier Fortsetzungen des ersten „Pusher“-Films erzwang.

Too Old to Die Young (© Amazon)
Too Old to Die Young (© Amazon)

Und bereits bei „Fear X“ beginnen sich die Meinungen zu spalten. Auch weil dieser Film deutlich mehr Zustand als Erzählung ist, was von der Kritik nicht besonders gut aufgenommen wurde. Die vor Trauer sich zersetzende Suche eines Mannes (John Turturro) nach dem Mörder seiner Frau ist eine Reise in das Ungewisse, hinab in die Psyche einer von unterdrückter Wut erfüllten Figur: Die Bildschirme der Überwachungskamera beginnen zu flimmern, die Gänge des Hotels werden zu labyrinthischen Gehirnwindungen und der Aufzug ein Senkblei in die Dunkelheit der Trauer. Jedes Bild in diesem Film ist in einem doppelten Sinne lesbar, ist ebenso Teil der filmischen Wirklichkeit wie Ausdruck einer Paranoia und Innerlichkeit. Es handelt sich um eine doppelte Codierung, die Refn dann in Filmen wie „Bronson“, „Walhalla Rising“ und „The Neon Demon“ immer mehr zuspitzen wird: Reales und Gefühltes, Projektionen und Erleben überlagern sich als Formen des Raums.

Einfach formuliert: Jede stilistische Überspitzung ist der Ausdruck innerer Zustände der Figuren. Refns Filme neigen sich also in die Richtung des Expressionismus. Statt Schatten beginnen hier die Neon-Kontraste über die Leinwand zu tanzen, sich auszustrecken und ihre Wirkungen zu entfalten. Das Licht fließt zähflüssig, als hätte es allein die Kraft, sich einer einfachen Figurenpsychologie zu widersetzen: Jede Figur wird in das Porträt einer (urbanen) Landschaft, einer räumlichen Figuration eingebettet.

Während sich bei einem Filmemacher wie Christopher Nolan alle Figuren in den Dialogen entäußern und die Karten ihrer Seele auf den Tisch legen — man denke an den verbalen Austausch zwischen Butler Alfred (Michael Caine) und Bruce Wayne (Christian Bale) in „The Dark Knight Rises“ –, stülpt Refn das Innenleben seiner Figuren nach außen. Er verwandelt sie in räumliche Erscheinungen. Damit diese ihre Wirkung entfalten können, braucht es diese Zeit, diese Langsamkeit, die sich zu atemberaubenden Tableaus auftürmt: erst durch sie beginnt sich der bloße Handlungsort zu transformieren.

Drive (© Universum)
Drive (© Universum)


Zerdehnte Verdichtung

Dabei erweist sich „NWR“ – wie Refn mittlerweile von seinen Fans abgekürzt wird - in der Zerdehnung der Zeit als wahrhafter Meister der Verdichtung. Wie bereits die Fahrstuhlszene in „Drive“ alle wesentlichen Konfliktlinien des Films in sich vereint, so verweisen die ersten (langen) Einstellungen bei „Too Old to Die Young“ auf eine komplexe Topographie, die jedwede klassische Dramaturgie ersetzt.

Eine als Abbildung des ländlichen Mexikos lesbare Wandzeichnung füllt den Bildschirm. Langsam fährt die Kamera zurück, wobei sich durch die zähe Bewegung eher der Eindruck einstellt, als würde die Kamera eintauchen; der Nachhall dieser Landschaft legt sich über die beiden Cops, die noch schweigend vor ihrem Auto stehen. Gegenüber ist ein anderes Fahrzeug zu erkennen, dass von der Kamera, in einer zärtlichen Bewegung die Kühlerhaube entlang, buchstäblich gestreichelt wird. Die Lichtreflexionen werden Linien der Liebkosung, die sich treffen und die ineinander stürzen. Was sich hier anbahnt, ist die Konfrontation zwischen Jesus und Martin, die über mehrere Episoden hinweg anschwellen wird.

Refn blendet hier bereits Mexiko und die USA ineinander. Was sich in der Figur Jesus im Verlauf der Serie verkörpern wird, ist zu Beginn noch reine Atmosphäre: Beide Länder sind durch einen Zirkel der Gewalt miteinander verbunden, haben sich wechselseitig in einem Teil ihrer männlichen Identität erst hervorgebracht: Die amerikanischen, weißen Cowboys (Cops) stehen den gesetzlosen „Gringos“ (dem Kartell) gegenüber.

Auf ebendiese Weise bewegt sich auch Martin, die Hände in den Gürtel gestemmt und in verächtlicher Geste auf den Boden spuckend: Er verkörpert eine Männlichkeit, die sich im Verlauf der Serie als zu alt, um jung zu sterben, erweisen wird. Etwas hat sich überlebt, eine alte patriarchale Ordnung diesseits und jenseits der Grenze; alles bewegt sich mit der selbstsicheren Langsamkeit des Alters, die gleichsam ihre Gebrechlichkeit überspielen muss. Der Western als Genre lässt grüßen.

Es ließen sich noch dutzende Beispiele aus „Too Old to Die Young“ aufführen: Der ekstatisch ausgelebte Faschismus auf der Polizeistation, in der sich die Institution des Rechts als verdorbener Ort des Rassismus in theaterhafter Manier entblättert; oder der auf Trump anspielende Sexismus von William Baldwins Figur, der den Raubtierkapitalismus mit dem Kuscheltier seiner Tochter auslebt. Auch an die abstrakten Dreiecke in „The Neon Demon“ sei erinnert, an die geballte, bildfüllende Faust in „Only God Forgives“. All das sind Verdichtungen, die nicht auf Metapher oder Allegorie reduziert werden können. Dafür spielt der Prozess einer Bewegung durch den Raum in der Welt von Refn eine viel zu große Rolle.

Fear X (© Sunfilm)
Fear X (© Sunfilm)


Antizipationsbewegung

Erneut kann man bei „Fear X“ beginnen. Ganz buchstäblich, da es auch hier die allererste Einstellung ist, die bereits die ersten Geheimnisse birgt. Da ist bereits diese Langsamkeit, die uns in zähflüssiger Ruhe zum Hinsehen zwingt. Mehr als ein Vorhang, der den Blick durch das Fenster nur durch einen schmalen Spalt gewährt, ist nicht zu sehen. Doch ist dieser Spalt wie ein Abfluss, der statt Wasser den Blick abzieht und eine Erwartung provoziert: Wir sind dazu gedrängt, das Dahinterliegende zu antizipieren: Eine vage Bedrohlichkeit, wie uns die dunkle Atmosphäre suggeriert.

Dann greift eine Hand ins Bild und legt eine Hälfte des Fensters frei; wir sehen nichts weiter als einen verschneiten Vorgarten in einer amerikanischen Stadt, eine Straße und das etwas schäbige Haus der Nachbarn gegenüber. Ein banales, ja alltägliches Bild wird unsere Ahnung unterlaufen, bis schließlich die andere Hälfte des Vorgangs zurückgezogen wird. Refn entfaltet sein Bild, legt Schicht um Schicht frei und treibt dabei sein Spiel mit der Verzögerung.

Er lässt uns eine Frau sehen, die verloren im Schnee steht. Ein Umschnitt zeigt das Gesicht, das zu den Händen gehört, die nach dem Vorhang gegriffen haben: Ein Mann, auf dessen Gesicht sich das Draußen durch die Scheiben spiegelt. Erneut zeigt das Bild etwas, das ist, und wird gleichzeitig zum Ausdruck der psychischen Verfasstheit der Figur. Wir werden in diesen Blick hineingezogen, durch die Langsamkeit dazu provoziert, die unvollständigen Bilder im Kopf zu vervollständigen.


Aushebeln der Genre-Codierung

Was sich in dieser Szene in eine Statik hinein entfaltet, wird von Film zu Film zunehmend in eine langsame Bewegung übersetzt, die den Raum durchschreitet, ihn Stück für Stück entblättert. Insbesondere in der zweiten Episode von „Too Old To Die Young“ sind die beinahe ausschließlich horizontalen Bewegungen der Kamera dominant. Wir durchstreifen Clubs, kommende Tatorte und soziale Räume größter Anspannung.

Only God Forgives (© Tiberius)
Only God Forgives (© Tiberius)

Frédéric Jaeger bringt die Wirkung dieses Stilmittels auf den Punkt, indem er das Warten auf das Unheil als dominantes Motiv der Serie ausmacht: Warten „auch im Sinne der Suspense, wenn wir etwa wissen, wer vergewaltigt oder gleich draufgehen soll, es aber Minute um Minute hinausgezögert wird. Affektiv oszilliert ‚Too Old to Die Young‘ zwischen Herbeisehnen und Wegfürchten des Grauens, das durch Taten beendet werden kann, häufiger aber durch den Schnitt erlöst wird.“

Hinzuzufügen wäre lediglich das geschickte Unterlaufen der Erwartung, das Refn auszukosten weiß. Dies findet statt, wenn Bilder wider Erwarten gegen den Strich gebürstet werden und ihre eigene Genre-Codierung aushebeln. Als in der fünften Episode einer der üblen Pornoproduzenten mit einer potenziellen Darstellerin eine dämmrige Bar verlässt, weil es noch etwas zu tun gäbe, erwarten wir eine Vergewaltigung, eine Szene für einen Rape Porn oder ähnlich Explizites. Stattdessen aber steht der Mann mit einem Gartenschlauch in der Hand in einem gekachelten Raum und spritzt die Frau nass.

Gerade weil die psychologische Gewalt dieser Szene so derart drastisch ist, fühlen wir uns ertappt: Wir waren erleichtert und erschrecken darüber, wie leicht sich doch die Maßstäbe verschieben lassen. Man kann dies als eine effektive Ethik der Verführung beschreiben, die Refn geschickt durchs Spiel mit der Erwartungshaltung des Publikums vorantreibt. Das mag zwar nicht für ein besonders optimistisches Menschenbild sprechen, ist aber von einer ungeheuren Komplexität, in der die so vehement kritisierte Oberflächlichkeit der Bilder ihre ethische Tiefe offenbart.

Copenhagen Cowboy (© Magnus Nordenhof Jønck/Netflix 2022)
Copenhagen Cowboy (© Magnus Nordenhof Jønck/Netflix 2022)


Inhalt und Form sind untrennbar verschmolzen

Man kommt der filmischen Poetik von Refn also nur über die Form nah. Folglich gilt es, die kritische Formel Style over Substance zu revidieren. Im Falle von Refn (und anderen Regisseur:innen wie Claire Denis, Gaspar Noé oder Peter Strickland) sollte es heißen: Style is Substance. Denn wie der Philosoph Jacques Rancière unter Bezug auf Flaubert ganz richtig ausweist, ist „ein Stil nicht die Verzierung eines Diskurses (…), sondern eine Art und Weise, die Dinge zu sehen.“ (Jacques Rancière: Béla Tarr. Die Zeit danach, S. 37). Vielleicht kann die Filmkritik in dieser Hinsicht noch von der Kunstkritik und ihrem Respekt vor der Entwicklung einer eigenen (Form-)Sprache lernen: Es gibt die Kraft eines Jackson Pollocks, die Flächen eines Mark Rothko und die Gewalt des Fleisches bei Francis Bacon. Niemand käme auf die Idee, bei diesen Meistern eine Redundanz anzumerken, nur weil sie sich wieder und wieder an ihren Themen und Techniken abgearbeitet haben. In diesem Diskurs fallen Inhalt und Form (Material, Leinwand, Farbe) weitestgehend ineinander. Vielleicht ist Refn ja viel näher an der Malerei als an der Erzählung: ein Maler der komplexen Stille.

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