© IMAGO / ZUMA Press („Tagebuch eines Landpfarrers“)

Die Stille möglicherweise: Was ist das „Original“ bei Robert Bresson?

Fragen zum Stellenwert, zur Rezeption und Problematik der Originalfassung von frühen Filmen Robert Bressons

Veröffentlicht am
07. März 2023
Diskussion

Der französische Filmemacher Robert Bresson ist mit seinen asketischen, streng komponierten und von seinem katholischen Glauben geprägten Werken in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Einzelgänger des Kinos. Noch immer herrschen in Publikationen und bei Retrospektiven allerdings eher einseitige Deutungen Bressons vor. Das ist schon deshalb verwunderlich, weil gerade bei seinen frühen Filmen oft zahlreiche, sich voneinander unterscheidende Fassungen existieren. Für die Rezeption ergeben sich so Schwierigkeiten, aber auch sehr verlockende Ansatzpunkte.


Robert Bresson. Monolith der französischen Kinematographie, Säulenheiliger des Autorenkinos, Filmjansenist. Für manche mag damit alles zu dem Regisseur gesagt sein, der von 1901 bis 1999 lebte und zwischen 1943 und 1982 lediglich 13 Langfilme inszenierte. Doch schon ein Blick auf seinen Einstieg ins Filmgeschäft müsste die starren Überzeugungen in Bezug auf Bresson aufbrechen: Der Offizierssohn aus der Region Auvergne-Rhône-Alpes begeistert sich zunächst für Musik und Malerei, während er ein Gymnasium mit humanistischem Schwerpunkt (Latein, Griechisch, Philosophie) besucht. Interesse an Literatur stellte sich erst später ein, wie er freimütig bekannte. Als künstlerischer Autodidakt wurde Bresson Maler und ambitionierter (Werbe-)Fotograf, Anfang der 1930er-Jahre geriet er unter den Einfluss der (Film-)Surrealisten. Sein erster Kurzfilm war die Burleske Les affaires publiques (1934), zuvor hatte er die Dialoge zu Friedrich Zelniks und Maurice Gleizes deutsch-französischer Komödie C’était un musicien(„Es war einmal ein Musikus“, 1933) verfasst. 1940/41 verbrachte er als Widerstandskämpfer eineinhalb Jahre in deutscher Kriegsgefangenschaft; verlässliche Angaben – wo und unter welchen Umständen – existieren nicht.

Klar ist jedoch, dass sich erst damals entscheidende Wandlungen in Bresson vollzogen. In dieser Zeit begegnete Bresson dem Dominikanerpater und Résistance-Mitglied Raymond Léopold Bruckberger, mit dem er die Idee zum ersten langen Spielfilm Les anges du péché (Das Hohelied der Liebe / Engel der Sünde, 1943) entwickelte. Interessant ist dabei zunächst die zeitliche Kongruenz mit Henri-Georges Clouzots 1943 entstandener, umstrittener Vichy-Parabel Der Rabeund Marcel Carnés Kinder des Olymp(1943/45). Weil biographische Fakten, zeitgenössische Kritiken und Interpretationen zu Bressons Oeuvre oft doppeldeutig bleiben, schwingen die klar strukturierten, asketischen Dialoge und Bilder der frühen Filme in jedem Fall immer wieder zurück auf die künstlerische Ambivalenz ihres Schöpfers. Der im Übrigen auch heute noch regelmäßig gewürdigt wird: Anders als viele einst verehrte Filmemacher wurde und wird Bresson nach wie vor mit Retrospektiven inklusive vorbildlich restaurierter Fassungen seiner 13 Langfilme geehrt. So 2018 beim Filmfestival von La Rochelle und in der Cinémathèque française oder 2022 vom British Film Institute.

Robert Bresson (© IMAGO / Ronald Grant)
Robert Bresson (© IMAGO / Ronald Grant)

Bressons erste, einer klassizistischen Ästhetik verpflichteten (Auftrags-)Produktionen verbinden Elemente eines „inneren Realismus“ mit Gesellschaftsstudien im Sinne des poetischen Realismus. In ihrer stilistischen Rigorosität suggerieren sie die Nähe zu einer religiösen Transzendierung der Wirklichkeit. Es ist nachvollziehbar, warum viele Exegeten in ihren Analysen – auch mit Klischees vom transzendentalen Stil des dem Jansenismus nahestehenden Regisseurs – ihr Heil in einer eindimensionalen Spurensuche fanden. Die Entstehungszeit der Filme prägt mit ihren kollektiven Stimmungen die Herangehensweise an Bressons Werk: Führt die Verzweiflung des Menschen an der Gegenwart und einer unwägbaren Zukunft zur Flucht in eine scheinbar konfliktärmere, erklärbare Vergangenheit? Im Nachgang zu Auschwitz, zu Hiroshima – sichtbar im irdischen Leidensweg, mit seinen diversen Gefängnissen (von Tagebuch eines Landpfarrers über Ein zum Tode Verurteilter ist entflohen bis zu Vier Nächte eines Träumers oder Das Geld)? Resultiert aus dieser existentialistischen Grundsituation ein unstillbarer Hunger nach Gnade, nach Erlösung vom Gefängnis des Körpers, vom Martyrium der menschlichen Existenz?

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Exponenten der literarischen Moderne, James Joyce oder Virginia Woolf etwa, liefern Anknüpfungspunkte zu Bressons egomanischer Filmdramaturgie und Ablehnung des „gefilmten Theaters“, wie sie auch Manoel de Oliveira auf seine Art interpretierte. Die Kraft der Introspektion, der Bewusstseinsstrom seiner Figuren (die er als „Modelle“ bezeichnete), die Spiegelung der Seele an der Ober- und Reibefläche der Wirklichkeit waren Bresson wichtig. Er verstand Kinematographie als eigengesetzliche Inszenierung der Realität: „Ein Film entsteht nicht durch Bilder, sondern durch die Beziehung der Bilder zueinander … Alles, was man sieht, fand nicht vor der Kamera, sondern im Schneideraum statt.“


II. Was ist das Original?

Damit sind wir im Thema, denn herumgeschnitten wurde an Bressons Arbeiten nicht gerade wenig. Längenangaben zu frühen Bresson-Filmen beinhalten immer die Frage nach dem „Original“, der authentischen (Ur-)Fassung des Werks, seiner Genealogie, Rezeptions- und Überlieferungsgeschichte. Für die ersten drei langen Spielfilme – Das Hohelied der Liebe“/„Engel der Sünde, Die Damen vom Bois de Boulogne und Tagebuch eines Landpfarrerssoll hier eine Bestandsaufnahme und Dokumentation jener häufig ausgeblendeten Fragestellung im Mittelpunkt stehen.

Stark divergierende, offensichtlich ungeprüft übernommene Längenangaben zu den drei Produktionen finden sich bereits in zahlreichen französischen Standardwerken. Vermeintlich verlässliche Quellen wie etwa die Indexbände von „La cinématographie française“ oder die Zeitschrift „Cahiers du Cinéma“ geben auch bei späteren Würdigungen der Filme keine entsprechenden Hinweise. Anlässlich einer Präsentation von Bressons Gesamtwerk im Dezember 1984 führte François Weyergans in „Le Monde“ aus: „Diese Retrospektive mit neuen Kopien, und das ist das Mindeste, stellt ein Ereignis dar. Oft sind die noch verfügbaren Kopien von bestimmten Filmen Bressons amputiert: verschlissen und auf gut Glück zusammengeklebt. Es fehlten Einstellungen, ja ganze Sequenzen. Dass die Filme – wie man so sagt – gekürzt waren, ist der Skandal!“

Bresson lehnte emotionales Schauspiel ab (Bild aus „Mouchette“, © IMAGO / Ronald Grant)
Bresson lehnte emotionales Schauspiel ab (Bild aus „Mouchette“, © IMAGO / Ronald Grant)


III. Das Hohelied der Liebe / Engel der Sünde (1943)

1943 dreht Bresson seinen ersten langen Spielfilm. Er konzentriert sich auf das innere Drama von Anne-Marie und Thérèse, zwei „Suchenden“ im Dominikanerinnen-Orden, die aus gegensätzlichen Motiven in eine und aus einer geschlossenen Anstalt (oder: Gefängnis) fliehen. Angesichts ihres „spirituellen Kampfes“ sind alle anderen Figuren – die Oberin und ihr Konvent, die Polizei(behörde) – nur Katalysatoren der Versuchsanordnung. Der Fokus auf die seelische Verfassung von Frauen während der Okkupation, ist ein Novum im (damaligen) französischen religiösen Film. Die unkonventionelle Kombination von Beziehungen und Charakteren funktioniert als eine Art Dialog. Darauf reagiert auch die ausgesuchte Kameraarbeit von Philippe Agostini mit ihrer Lichtsetzung. Flächen, Schauplätze sind auffällig stilisiert: dunkel, grau oder hell. Dialoge, Musik und Geräusche fungieren als Kontrapunkt. Stilistisch entstammt Bressons Film keiner vorhergehenden kinematographischen Schule. Seine klassische Eleganz verdankt er nach Ansicht vieler Kritiker auch Jean Giraudoux’ Dialogen.

René Briot resümiert 1957 in seinem Bresson-Buch: „Koautor R. P. (sic) Bruckberger erinnerte sich an die Entstehung des Projekts und die Themenwahl des Films … 1941 traf ich in Paris im Haus von Freunden Robert Bresson. Er wusste nichts über das religiöse Leben, die Existenz der Kongregation von Bethanien, aber begeisterte sich in der Folge davon dafür. Wir verfassten ein Drehbuch, das ich weitgehend unverändert bis zur Fertigstellung des Films bewahrte. Giraudoux akzeptierte, die Dialoge zu unserem Drehbuch zu schreiben. Der ursprüngliche Titel des Films lautete ‚Betania‘ (sic); der aktuelle, melodramatisch und zweideutig, war von den Produzenten durchgesetzt.“

Der im Hanser-Verlag erschienene Bresson-Band gibt für Das Hohelied der Liebe eine Kinolänge von 2628 Meter (96 Minuten) für das Original und 2400 Meter (88 Minuten) für die deutsche Fassung an. Weitere Quellen wie die Zeitschriften „Cahiers du Cinéma“, das britische „Monthly Film Bulletin“, Programmankündigungen der Cinémathèque française (2018) oder die BFI-Retro 2022 sprechen von 96, 91 oder 86 Minuten, je nach Präsentation von 35mm-Material oder digitalisierten Versionen.

Das Debüt „Das Hohelied der Liebe“ (© IMAGO / Ronald Grant)
Bressons Debüt „Das Hohelied der Liebe“ (© IMAGO / Ronald Grant)

In Bezug auf die (westdeutsche) Kinoaufführung kündigte ein Ifa-Werberatschlag zu „Das Hohe Lied der Liebe“ (sic) in einer Synchronisation der Film-Union, Teningen/Baden, eine Länge von 2600 Meter (95 Minuten) an. Der Berliner „Telegraf“ publizierte am 16.9.1947 (zur Vorführung in der Sowjetischen Besatzungszone) zu „Sündige Engel“ (sic) eine äußerst präzise und wertvolle Einschätzung: „Der Film ist eine Schwarzweiß-Symphonie, ein Licht- und Schattengemälde: die schneeweiße Marienstatue inmitten der weißen Klostermauern, die schwarzen Kutten, die weißen Umhänge, die Schachbrett-Fliesen der hellen Gänge mit den eichenen Türen, das schwarze Kreuz vor der getünchten Wand, die blassen Gesichter mit den dunklen Augen; da zeichnet ganz allein die Kamera das unbewußte Zwielicht der vom Urgrund zum Glanze sich sehnenden Seele.“

Ulrich Seelmann-Eggebert verweist in einer Filmdienst-Beilage 1965 noch auf ein erhellendes, wenig bekanntes Detail der Rezeptionshistorie: „‚Les anges du péché‘ kam unter dem nicht gerade zugkräftigen Titel ‚Das Hohelied der Liebe‘ und in einer einschneidend gekürzten, zudem ungenügend synchronisierten Fassung kurz nach dem Kriege heraus … Die seinerzeitige deutsche Fassung war unter Mitwirkung des (1948 verstorbenen) Freiburger Erzbischofs Conrad Groeber entstanden, der damals mit Recht meinte, nach den gerade überstandenen Zeiten des Nationalsozialismus könnten die strengen Bußübungen der Dominikanerinnen von Béthanie mißverstanden werden. Diese Bedenken sind heute gegenstandslos geworden, und so möchte man wünschen, daß dieser Film, einer der bedeutendsten aus katholischem Geiste in unserer Zeit, nicht auch vergessen werde.“

In einer Anfang 1949 erschienenen Kritik zur Uraufführung der deutschen Fassung heißt es: „Dem bizonalen Start dieses Werkes geht Mitte Januar eine festliche Sondervorführung unter dem Patronat des Herrn Kardinal Frings in Köln voraus. Der Film hieß ursprünglich in Anlehnung an den französischen Titel ‚Sündige Engel‘, wurde jedoch auf Wunsch der Kirche in ‚Das Hohelied der Liebe‘ umbenannt.“

Neben den Längen und den Titeln präsentiert sich im Übrigen auch die musikalische Untermalung bei den verschiedenen Fassungen von Bressons Debüt nicht einheitlich. Engagiert von Bresson wurde, wie auch bei seinen zwei nächsten Filmen, Jean-Jacques Grunenwald (1911-1982). Der Organist und Komponist arbeitete anschließend auch für zahlreiche andere namhafte Regisseure. „Das Kino gab mir die Möglichkeit, in einer Einstellung mit orchestralen Kombinationen zu experimentieren. Mit quasi unbegrenzten elektroakustischen Mitteln auf diesem Gebiet“, erklärte er.

„Das Hohelied der Liebe“ (© Synops)
„Das Hohelied der Liebe“ (© Synops)

Bresson schätzte in der Filmmusik eine unterstützende, ökonomische Funktion, die sich bereits inDas Hohelied der Liebedurch eine intime, pathetische Konzeption auszeichnete. Sphärenhafte Klänge mit einer dezenten Struktur aus Dissonanzen und versöhnlichen Harmonien nehmen die Gegensätze der Charaktere dialektisch auf und fügen sich in den Rhythmus des Films, in seine Klarheit gut ein. Im Unterschied zur Originalfassung verwendet die deutsche Synchronisation ein halbes Dutzend mal andere, weniger subtile Musiken, mit anderen Lautstärken und fehlenden Geräuschen in den betreffenden Szenen. Besonders störend geschieht dies in der sehr ernsten Szene mit der Priorin und der Novizin Anne-Marie sowie in der wichtigen Schlusssequenz, beim Gelübde der sterbenden Anwärterin.

Robert Bressons erste Spielfilme entstanden in einer Zeit, in der die Atmosphäre des sich abschwächenden sozial-psychologischen, poetischen französischen Realismus, die Strahlkraft des italienischen Neorealismus und die amerikanische Schwarze Serie prägend waren. Spiegeln sie die Angst des gehobenen städtischen und katholischen Bürgertums vor dem Krieg, vor der Zerstörung, die Zeit der Kollaboration, die unterschiedlichen Positionen in der gespaltenen (Nachkriegs-)Gesellschaft? Auf diese unterschwellige Stimmungslage in Bressons Frühwerk rekurriert die Einordnung von Das Hohelied der Liebeim „Time Out Film Guide“ (2012): „Eines der erstaunlichsten Filmdebüts überhaupt, entstanden während Frankreich noch unter der Nazi-Okkupation stand. Bresson wählte ein offensichtlich zeitloses Sujet: die Art, wie Menschen ihre Schicksale beeinflussen … Obwohl die Rettung greifbar nahe an einem Résistance-Abenteuer ist, faszinieren Bresson die einfachen menschlichen Konfrontationen, die aufopfernde Sehnsucht der aus sicheren, gutbürgerlichen Verhältnissen stammenden Anne-Marie, um die widerspenstige, wegen ihres kriminellen Liebhabers inhaftierte Thérèse zu retten. Selten haben die offensichtlich gegensätzlichen Welten des Spirituellen und der Erotik eine derart subtile, feinfühlige Darstellung erfahren.“


IV. Die Damen vom Bois de Boulogne (1945)

1945 ist der Krieg vorbei, und Robert Bresson bringt seinen zweiten Spielfilm „Die Damen vom Bois de Boulogne“ ins Kino. Die Damen vom Bois de Boulogneist eine klassische Tragödie mit kühler Strenge: kontrapunktisch in der Abstraktion, differenziert in den Abstufungen der Schwarz-Weiß-Töne, in ihrer Abstimmung auf Kostüme und Dekorationen. Der Film nutzt das (Rollen-)Muster einer verhängnisvollen Affäre: Eine eiskalte, verletzte Femme fatale kontert ihre Demütigung durch ihren Liebhaber mit der Präzision eines Uhrwerks. Unter der Oberfläche verbirgt sich auch etwas Marionettenhaftes, indem die Rächerin ihr (weibliches) Opfer wie eine Spinne im Netz gefangen nimmt. Ihre Intrige funktioniert als Studienobjekt männlicher Naivität. Maria Casarès (die Nathalie in Marcel Carnés Kinder des Olymp) verkörpert ein Paradebeispiel verletzter Gefühle und Manipulationen. Ihre Körperspannung, ihre stechenden Augen, ihre Lippen verströmen eine Leinwandpräsenz sondergleichen. Ein Infoblatt zum XI. Internationalen Filmtreffen 1959 in Bad Nauheim zitiert den Regisseur: „Ich wollte vor allem eines mit diesem Film erreichen … die Welt der sichtbaren Dinge in die Ferne rücken. Der Zuschauer sollte meine Personen, wie es Racine auch für seine Tragödien forderte, mit anderen Augen sehen, als wir gemeinhin sehen, als wir gemeinhin die Personen betrachten, denen wir im Leben begegnen.“

Maria Casarès in „Die Damen vom Bois de Boulogne“ (© arte)
Maria Casarès in „Die Damen vom Bois de Boulogne“ (© arte)

Im Herstellungsland erlebten der Film, der Regisseur und seine Produzenten nach der Uraufführung am 21. September 1945 ein finanzielles, filmkritisches und Publikums-Desaster. Jean Pouillon konstatierte drei Monate später in „Les Temps Modernes“: „Während der Vorstellung von ‚Dames du bois de Boulogne‘, die ich besuchte, wandte sich ein großer Teil des Publikums unzufrieden ab und drückte dies pfeifend und vor allem oft kichernd aus … Es waren deutliche Lacher, die ein großes Unverständnis für die Dramaturgie des Regisseurs und eine völlige Bezugslosigkeit zur Geschichte vor ihnen auf der Leinwand zeigten. Es gilt herauszufinden, auf was sich das alles bezieht, in der Psychologie der Zuschauer und in der Machart des Werks.“

Nach diesem missglückten Einstand beginnt auch für diesen Film eine Fortexistenz in unterschiedlichsten Versionen. Die Originalfassung des Films wird mit 2642 Metern, knapp 97 Minuten im Kino, angegeben. Bei der deutschen Erstaufführung (1969 im ZDF) betrug die Länge 2240 Meter, was einer Laufzeit von 79 (TV-) beziehungsweise 82 (Kino-)Minuten entspricht. Die französische Filmzeitschrift „L’Avant-Scène Cinéma“ notiert 1977 für das Original 96, als aktuelle Länge jedoch 84 Minuten! Eine 2018 veröffentlichte, von der Cinémathèque française verantwortete restaurierte 4K-Fassung wiederum besitzt eine Länge von 86 Minuten. Andererseits verzeichnet das Cinémathèque-Programm im Juli 2018 eine 90-minütige DCP-Präsentation. Der Kultursender arte strahlte 2020 die im Schlussteil des Films um zwei Minuten längere, in den Dialogpassagen untertitelte 4K-Fassung in HD aus. Eine digitale Vorführung im British Film Institute (Juni 2022) wird erneut mit 86 Minuten angegeben. Kurios: Danielle Dahan nennt in ihrer 2004 publizierten Untersuchung „Robert Bresson: une télélogie“ sogar eine Laufzeit von 100 Minuten!

Auch in Bezug auf die Musik weisen das Original und die deutsche Synchronfassung von Die Damen vom Bois de Boulognewieder einen eklatanten Unterschied auf. Während das Original Grunenwalds Musik betont melodramatisch, weicher, den Charakterzügen feinfühliger angepasst und auf die jeweiligen Schauplätze, Dialoge und Stimmungslagen abgestimmt einsetzt, zeichnet sich die deutsche Version durch eine mal mehr, mal weniger gelungene, schrille, oberflächliche Musik aus. Dadurch verändert sich der gesamte Charakter des Films. Die Atmosphäre, die Stimmungslage, die Psychologie der Figuren und deren Motivation werden zerstört, geraten in Widerspruch zu den schauspielerischen Nuancen. Einige Veränderungen mögen den damaligen technischen und finanziellen Möglichkeiten der Synchronisation geschuldet sein. Andererseits werden von der Regie bewusst eingesetzte Geräusche (Straßenverkehr, Aufzug, Treppenhaus, Appartement, eine Tanzszene der Figur Agnès) relativiert oder komplett entfernt.

„Die Damen vom Bois de Boulogne“ (© arte)
„Die Damen vom Bois de Boulogne“ (© arte)


V. Tagebuch eines Landpfarrers (1951)

Erst sechs Jahre später meldet sich der mittlerweile schon 50-jährige Regisseur mit einem Werk zurück, das erstmals die Handschrift trägt, der er sein bleibendes Renommée verdankt. Eine verlassene, ärmliche Region in Nordfrankreich Anfang der 1940er-Jahre ist Schauplatz des 1950 gedrehten Spielfilms „Tagebuch eines Landpfarrers“. Nach einer Roman-Vorlage von Georges Bernanos hat der Regisseur auch das Drehbuch über die Aufzeichnungen eines Landpfarrers geschrieben, der in Ambricourt seine erste Gemeinde übernimmt. Die Tagebucheinträge fungieren unverkennbar als Spiegel einer gequälten, leidenden Seele, einer trostlos-kargen Landschaft und religiös weitgehend desinteressierten Gemeinschaft. Dominiert wird jene von wenigen Honoratioren, Stützen der Gesellschaft, unter der Vorahnung der Okkupation und des Vichy-Regimes. Der Priester repräsentiert eine Kirche im Schatten, bedroht von der Selbstauflösung (ein Glaubensbruder gibt sein Amt einer Frau zuliebe auf). Die Präsenz der Charaktere, die alltägliche Reflexion des Lebens, sie werden bestimmt von der Angst, der Einsamkeit seiner Figur(en), der wenigen Gemeindemitglieder. „Bresson dirigiert die Aufnahmen wie ein Priester die Messe zelebriert. Mit einer Ruhe, einer Überzeugung, einer wundervollen Konzentration. Das ist ein Meister“, beschrieb Robert Pilati in der kommunistischen Tageszeitung „Ce soir“ die Dreharbeiten.

In seiner Besprechung vom 7. April 1952 diagnostizierte der Filmdienst zu Recht ein „Drama der Innerlichkeit“. „Der Film ist sozusagen bewegungslos, das Äußere ist zwar nicht stilisiert, tritt aber leitmotivisch immer wieder auf: der Curé, der sein Tagebuch schreibt, der Curé, der ins Schloß einbiegt, der Curé, der aus dem Fenster schaut, die Kamera, die in seinem Gesicht den letzten, schmerzverzerrten Winkel aufsucht. Das ist alles; aber es ist unendlich viel. Die Wirklichkeit ist zur Chiffre geworden, und das Großartige, das artistisch Großartige des Werkes hat man darin zu suchen, wie dem Zuschauer die Schlüssel in die Hände gespielt werden, die es erlauben, diesen Code zu entziffern, ihn in unsere normale Sprache zu übersetzen. Die Schauspieler leisten in diesem Film das fast Unmögliche: nur Profil zu sein, nur Material der verwandelnden Kamera, und zugleich doch auch, möchte man sagen, ihr imaginäres Profil, ihre Religiosität nach außen zu kehren, kommunizierbar werden zu lassen. Die Photographie hat sich diesem Bestreben angepaßt: sie schwelgt zwischen dem hintergründig-mysteriös Dunkeln und dem hellen Vorderlicht. – Daß der ungewöhnliche Film Schwierigkeiten haben wird, selbst in christlichen Kreisen ein Publikum zu finden, das die erforderlichen geistigen Voraussetzungen mitbringt, darf wohl nicht verschwiegen werden. – Für Erwachsene. Zu empfehlen.“

„Tagebuch eines Landpfarrers“ (© imago/ZUMA PRESS)
„Tagebuch eines Landpfarrers“ (© imago/ZUMA PRESS)

Interessant im Kontext der Frage nach der Original- und deutschen Länge ist ein Leserbrief aus den „Aachener Nachrichten“ vom 15.7.1952. „Man stelle sich bloß einmal vor, ein Dirigent ließe die zehn letzten Takte eines Brahm’schen (sic) Symphoniesatzes einfach aus, ein Museumsdirektor schnitte von einem van Goghschen Bild fünf Zentimeter ab, um es für einen Rahmen passend zu machen, ein Inspizient ließe seinen ‚Faust‘ die letzten Quintessenzen in den herabrauschenden Vorhang sprechen – wahrscheinlich wäre das für alle drei ihre letzte Amtshandlung gewesen. Aber ist es denn etwas so grundsätzlich anderes, wenn man aus einem künstlerisch so bedeutsamen Film, wie es „Das Tagebuch eines Landpfarrers‘ nun einmal ist, mit Hilfe von Schere und Kleister ein Torso macht? Mit welch gefühllosem Unverständnis hat man es hier zuwege gebracht, die Einheit des Kunstwerks ernstlich zu gefährden. Gerade in einem solchen Film, in dem sparsame Mimik und bedeutsamer Dialog die Hauptträger des Kunstwerks sind, muß sich Stückelei verderblich auswirken.“ (E. G.)

Über die hier beklagte Kürzung der deutschen Fassung (3147 Meter, 115 Minuten) gegenüber dem französischen ‚Original‘ von 3260 Meter (119 Minuten) findet sich weder bei der FSK noch in allen geprüften Quellen substanzielles Material. Stefan Schädler schreibt 1978 in seiner kommentierten Filmografie im Hanser-Band: „Noch bei den Schnittarbeiten kürzte Bresson, dem dabei auch äußere Zwänge zu Hilfe kamen, den Film um 45 Minuten auf 110 Minuten, wobei vornehmlich Episoden wegfielen, die nicht direkt mit der Entwicklung des Landpfarrers zu tun hatten.“ Diese Längenangaben, die dann auf das französische Original wie auf die deutsche Version zuträfen, kollidieren jedoch mit anderen zitierten Recherchen in der Publikation!

„Tagebuch eines Landpfarrers“ (© imago/ZUMA PRESS)
„Tagebuch eines Landpfarrers“ (© imago/ZUMA PRESS)

Vermutlich berufen sich Schädler und andere auf René Briots ausführliches, undatiertes I.D.H.E.C. Fiche filmographique Nr. 117. Dort heißt es: „Zahlreiche gedrehte Episoden wurden beim Schnitt entfernt (45 Minuten) … Es gilt anzumerken, dass BRESSON nicht gezwungen war, diese Szenen zu schneiden, um seinen Film auf eine Standardlänge zu bringen, sondern das, wohlüberlegt, aus rein ästhetischen Gründen entschieden hat. Er erklärte 1951: ‚Nein, ich habe sie nicht geschnitten, wie man das sagt, weil der Film zu lang war. Ich hatte diese Überzeugung schon lange … Das Drehbuch eines Films ist tot. Ein Film nimmt während seiner Inszenierung keinen Körper, kein Leben an. Das braucht Zeit. Jene Szenen, auf der Leinwand mit der Vorahnung einiger geopferter projiziert, sie sind entfallen, um in die Komposition des Films einzugehen. Darauf zu beharren, hätte den Film in Todesgefahr gebracht.‘“

Gunter Groll schrieb in der ‚Süddeutschen Zeitung“ am 8.10.1952: „Noch nach der Premiere, noch nach der Preisverleihung schnitt er an seinem Film herum: sein Werk ließ ihn nicht los. So entstand der Film. So können Filme entstehen. In Frankreich!“ Der Filmkritiker und -historiker Pierre Leprohon stützt in „Extrait de Robert Bresson“ (1957) teilweise diese Sicht, der zufolge Bresson nach den umfangreichen Dreharbeiten für die Verleihkopie ein Drittel der Erstmontage opfern musste und diese Aufgabe gerne – nur aus rein ästhetischen Gesichtspunkten – ausführte.

Beim Parallelvergleich von aus derselben Quelle stammenden Editionen zu Tagebuch eines Landpfarrers fällt eine unterschiedliche Überspielgeschwindigkeit des restaurierten Werks auf, sodass keine vermeintliche längere (Original-)Fassung vorliegt. Die Längendifferenz beträgt insgesamt mehr als vier Minuten! Fehlende oder zusätzliche Sequenzen lassen sich nicht feststellen. Die langsamen Auf- und Abblenden aus dem Schwarzen oder ins Schwarze dauern meist drei Sekunden und sind als bewusstes Stilmittel zur Konfiguration und Transformation der literarischen Vorlage anzusehen. Mit dieser filmspezifischen Kapitelstruktur gelingt eine stärkere Verschränkung ambivalenter Milieus und Schauplätze. Bressons elliptische Dramaturgie und Montage agieren wie ein Seismograph der Befindlichkeit, der inneren Landschaften seiner Hauptfiguren. So entsteht ein fließender Übergang von der Alltagsrealität zur Identitätssuche in ihrer Gedanken- und Gefühlswelt. Tagebuch eines Landpfarrers macht von der Außenwelt – eine stringente Komposition aus Straßengeräuschen, Hundebellen, Wagen und Autos, Motorradfahrt, Feuer und Gärtnerarbeiten – sehr subtil, unprätentiös Gebrauch.

„Tagebuch eines Landpfarrers“ (© imago/ZUMA PRESS)
„Tagebuch eines Landpfarrers“ (© imago/ZUMA PRESS)

Schwer hat es der Film beim zeitgenössischen Publikum in jedem Fall. „Der Spiegel“ berichtete in der Ausgabe vom 29.5.1951: Der Film sei „bisher erst einmal, beim Filmfestival in Bacharach, über eine deutsche Leinwand“ gelaufen. – Geld für Synchronisation oder Untertitelung durch die katholische I-Film-GmbH fehlt … „Bei seinen ausdauernden Bemühungen um den guten religiösen Film glaubt der Filmkaplan (Karl Loven) auf das ‚Tagebuch eines Landpfarrers‘ nicht verzichten zu können. Er ist überzeugt, daß schon ein guter Film die kirchlichen Proteste gegen zehn minderwertige Streifen aufwiegt … Mit dem ‚Tagebuch eines Landpfarrers‘ im Koffer ist der Film-Kaplan bei Westdeutschlands sämtlichen Bischöfen vorstellig geworden, bei einigen wurde er schon im Vorzimmer abgefangen.“

Eisige Starrheit, Bernanos’ Text im Stil von Racine auf die Leinwand gebrannt, einen quälend langsamen Rhythmus konstatierte Ulrich Seelmann-Eggebert. Den Gesetzen der Ewigkeit, dem Überirdischen verpflichtet, stünden Passion und Kreuzweg des krebskranken Pfarrers bei Bresson im Zentrum. „Was er dort schuf, wird den dogmenstrengen Traditionschristen vom Gedanklichen und den dogmenstrengen Apologeten des ‚Filmischen‘ vom Formalen her wohl gleichermaßen ein Ärgernis sein. Aber er hat hier für das lebendige Wort Gottes einen neuen Ausdruck gefunden, der von echten Impulsen erfüllt ist und gewiß in keiner anderen Form möglich gewesen wäre.“ (Info der Woche, 10.5.1952)


VI. Leerstellen – Neuansätze

Bis heute scheinen die Interpretationen von Bressons Œuvre sich oft auf wenige Elemente und Deutungsrichtungen einzuschießen. Allerdings sei noch erwähnt, dass es auch wissenschaftliche Analysen gibt, die zu ganz eigenen Schlüssen kommen. Thibaut Schilt zum Beispiel verweist in seiner 2005 publizierten Dissertation „Marginal Pleasure and Auteurist Cinema: The Sexual Politics of Robert Bresson, Jean-Luc Godard, Catherine Breillat and François Ozon“ auf eine in der deutschsprachigen Rezeption von Bressons Oeuvre fast vollständig fehlende Perspektive. Er meint die unterdrückte Homosexualität des Filmemachers, wie sie sichtbar werde an depressiv wirkenden Charakteren und einem homoerotischen Subtext in den meisten Produktionen – insbesondere nach Pickpocketbis zu Das Geld. In Die Damen vom Bois de Boulogne, einem Film über drei verschiedene Frauentypen, in dem die Männer lediglich Staffage sind und eine Schattenfunktion haben, sieht Schilt einen dezidierten Angriff auf das patriarchalische System, eine weibliche, wenn nicht feministische Perspektive. Die Reflexion der Rebellion gegen die Männergesellschaft ist für ihn eine Zeitenwende des Geschlechterkampfs. Agnès versucht, aus dem Gefängnis der Mutter und der Unheimlichkeit des weiblichen Blicks von Thérèse zu entkommen. Schilt zitiert hierzu Jean Douchet: „Es gibt eine sehr eindeutige schwule Tendenz bei Bresson … Maria Casarès in ‚Les Dames du Bois de Boulogne‘ ist eine Mätresse, eine Domina. Bei Bresson ist die Regie eine Form von Sadismus. Er muss alles dominieren. Die Ablehnung seiner Homosexualität hat ihn ein besonders bedrückendes, problemorientiertes Werk schaffen lassen.“ – Eine provokante These, die ganz sicher einer weiteren Untersuchung bedarf, in jedem Fall aber Anregungen zu neuen Diskussionen und Analysen bietet.

Gleiches gilt für Stéfan Leclercq, der bereits in seinem 2001 erschienenen Essay „La Métaphysique Érotique des Films de Robert Bresson“ einen Interpretationsansatz anbietet, der Schilts Sichtweise übergeordnet ist. „Durch den Umstand, mehr auf Suggestion als auf Zeigen zu setzen, schafft Bresson eine Erotik des Bildes, wobei der Zuschauer eingeladen ist, mehr zu imaginieren als zu betrachten. Bresson entwickelt eine Metaphysik der Erotik, im Gegensatz zu einem anderen Bildtyp, der, indem er alles zeigt, einen Materialismus des Pornographischen favorisiert.“ Man merkt: Zu Bresson ist noch längst nicht alles gesagt.


Dank an die Bibliothek des DFF und Ernst Schreckenberg für ihre Unterstützung der Recherchen.

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