© Lee Miller Archives (aus "Trained to See - Three Women at War": Frauen mit Feuermasken, London, 1941)

Das Überdauerte liegt in der Luft

Mittwoch, 15.02.2023 14:02

Eine Veranstaltungsreihe bei den 58. Solothurnern Filmtage spürte dem Umgang mit historischen Bild- und Filmmaterialien nach

Diskussion

Im Zug der Digitalisierung ist historisches Bild- und Filmmaterial leichter und in größerer Fülle denn je verfügbar. Davon profitieren Filmemacher, die historische Ereignisse durchleuchten. Doch der Einsatz solcher Materialien ist mit vielen rechtlichen, künstlerischen und medienethischen Fragen verbunden. Denen spürte eine Veranstaltungsreihe während der 58. Solothurner Filmtage (18.-25.1.2023) nach.


Die 58. Solothurner Filmtage diskutierten in ihrem international ausgerichteten Fokus-Programm „Archivfieber“ die Verwendung von Archivmaterialien in Spiel- und Dokumentarfilmen. Das Thema liegt im digitalen Zeitalter angesichts der (vermeintlich) allzeitigen Greifbarkeit von (auch historischem) Bild-Ton-Material in der Luft. In Solothurn wurde es in einer Filmreihe und vier Gesprächsrunden mit Filmemachenden und Experten verhandelt.

Wir haben, hieß es dabei einmal, genug von (historischen Dokumentar-)Filmen mit Zeitzeugen. Denn Zeitzeugen geben ihre Erinnerungen weiter. Erinnerungen aber sind immer subjektiv. Sie spiegeln einen persönlichen Standpunkt, verwässern und verändern sich im Laufe der Jahre. In Bezug auf ein tatsächliches Geschehen sind Aussagen von Zeitzeugen unzuverlässig. In einem Werkstattgespräch fasste dies der Dokumentarfilmer Volker Heise mit einem Satz lapidar zusammen: Zeitzeugen erinnern sich immer falsch.

Um seine Aussage zu belegen, erwähnte er eine Episode aus seiner Arbeit an „Gladbeck– Das Geiseldrama“. Es gibt im Film eine Stelle, an der einige der vor Ort anwesende Journalisten mit einem der beiden Geiselnehmer ein Interview führen. Die Journalisten, erzählte Heise, hätten ihm unisono geschildert, dass der Mann ihnen das Interview sozusagen aufgedrängt habe. Die Aufnahmen, welche die vor Ort anwesenden Kameramänner schossen, erzählen aber das genaue Gegenteil.

"Gladbeck - Das Geiseldrama" (© 2022 Netflix, Inc.)
"Gladbeck - Das Geiseldrama" (© 2022 Netflix, Inc.)

Der Film rekonstruiert den Banküberfall mit Geiselnahme von Gladbeck im August 1988. Das Verbrechen, in dessen Verlauf drei Menschen ihr Leben verloren, zog sich über 54 Stunden hin. Es wurde von den Medien in einer bis dahin nie dagewesenen Weise aus nächster Nähe rapportiert und entwickelte sich zu einem zwiespältigen Live-Spektakel. Sowohl die Vorgehensweise der Polizei wie auch das Verhalten der Journalisten wurden im Nachgang heftig kritisiert. Volker Heise hat „Gladbeck“ ausschließlich aus Originalmaterial gefertigt und verzichtet im Film auf jeglichen zusätzlichen Kommentar.


Wem gehören die Bilder?

Nach drei Festivaltagen und ersten zum Fokus-Thema gezeigten Filmen fand ein Gespräch zwischen den Filmhistorikern Sylvie Lindeperg und Bertrand Bacqué statt. Bacqué stellte Fragen, Lindeperg gab Auskunft. Sie gilt als Koryphäe auf dem Gebiet des Dokumentar- und Archivfilms und hat darüber auch viel geschrieben. Eine ihrer wichtigsten Publikationen ist der zusammen mit Ania Szczepanska herausgegebene Aufsatzband „Who Owns the Images?“ („Wem gehören die Bilder?“). Darin werden die Themen Filmarchive und audiovisuelles Archivmaterial aus sehr unterschiedlicher, unter anderem auch rechtlicher und ethischer Perspektive diskutiert. Der Sammelband wurde 2021 open access publiziert. Für Archivare ist die Lektüre ein Muss, aber auch für Filmschaffende, Filmwissenschaftler und alle anderen, die sich mit der (Wieder-)Verwertung von audiovisuellem Archiv- und Found Footage-Material auseinandersetzen.




„Den Bildern folgen“: So war auch das Gespräch zwischen Bacqué und Lindeperg überschrieben. Es wurden darin erste Fährten gelegt. Diese bezogen sich auf die Kraft und Macht von bewegten (dokumentarischen) Bildern. Es ging um deren Wert und Funktion als historische Quelle, um die Wichtigkeit ihrer Identifizierung und das Dilemma, vor das Archive bei ihrer Wiederverwendung bisweilen gestellt werden. Konkret wurde über die Faszination gesprochen, die in den frühen Jahren des Kinos von Aufnahmen ausging, die während des Ersten Weltkriegs entstanden und die Menschen, die auf den Schlachtfeldern gestorben waren, Wochen, Monate oder auch Jahre später auf der Leinwand wieder auferstehen ließen. Was für uns heute selbstverständlich ist, wo man mühelos sein privates Filmarchiv anlegen kann und es Usus ist, sich des eigenen Lebens und des Weltgeschehens in Bewegt-Ton-Bildern zu vergewissern, mag den Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts wie ein Wunder erschienen sein.

Angesprochen wurde aber auch die Frage der Glaubwürdigkeit, die in der Regel Aufnahmen zugeschrieben werden, die inmitten eines Geschehens entstanden sind – obwohl auch solche Bilder immer nur die Sicht des Menschen hinter der Kamera wiedergeben und keineswegs automatisch objektiv, sondern immer kritisch zu hinterfragen sind.


Spuren (aus) der Vergangenheit

Lindeperg bezeichnet solche Aufnahmen als in der Vergangenheit für die Zukunft angelegte „traces“ (Spuren/Zeichen). Dass diese der Geschichtsschreibung dienen, ist für sie unbestritten. Die Frage, die sich in der digital vernetzten Gegenwart vielleicht noch dringender als in der analogen Zeit stellt, ist die der Identifizierung und Verortung. Aufnahmen, von denen man nicht weiß, was oder wen sie zeigen und wer sie wann, wo und warum gemacht hat, sind quasi verloren. Da sie nicht konkret beschrieben werden können, tauchen sie in Katalogen nicht auf und sind damit auch nicht such- und auffindbar. Auch lassen sich über ihre rechtliche Situation und damit ihre Verwendbarkeit kaum Rückschlüsse ziehen.

Die digitale Revolution, das Aufkommen von Internet, Computer und Digitaltechnik, hat die Archivwelt radikal verändert. Wer heute eine Recherche durchführt, setzt sich an einen Computer und wird – einen freien Zugang zum Internet vorausgesetzt – fast zwangsläufig fündig. Doch das Internet ist eine dimensionslose Blackbox und ein Ort des endlosen Recyclings. Die Herkunft der darin zugänglichen Bilder und Töne ist oft kaum nachvollziehbar; ihre Echtheit lässt sich längst nicht immer überprüfen, ganz zu schweigen von ihrer oft minderen Qualität. Das gilt insbesondere auch für Internet-Funde aus Archiven; in der Praxis präsentieren Archive ihre Bestände heute oft in Online-Katalogen, welche die Bestimmungsangaben (Metadaten) eines Sammelobjekts zusammen mit einem qualitativ bescheidenen, nicht für weitere Verwendungszwecke gedachten Digitalisat enthalten.


Das Dilemma der Archive

Für die praktische Arbeit mit Found-Footage- oder Archiv-Material bedeutet dies: Wer sucht, findet im Internet zwar oft etwas, das aus unterschiedlichsten Gründen aber in einem Film nicht verwendet werden darf oder kann. Meist landet man bei einer Recherche, die Found-Footage-Material einbezieht, deshalb doch wieder leibhaftig im Archiv.

An dem unter dem Titel „Archivfieber“ veranstalteten Podium nahmen neben Catherine Cormon, der Leiterin der Sammlung des Eye-Museums in Amsterdam, die Archive Producerin Monika Preischl und die Filmemacherin Luzia Schmid teil.

Catherine Cormon erzählte vom enormen Druck, unter dem Archive heute stehen, weil sie ihre Bestände nicht nur präsentieren, sondern damit möglichst auch Gewinne generieren sollen. Viele Menschen sind sich, bedingt durch die permanente Verfügbarkeit von Bildern und Tönen im Internet, deren Wert und der damit zusammenhängenden Rechte oft nicht bewusst. Archive führt das leicht in ein Dilemma. Als Beispiel erwähnte Cormon das Digitalisat eines im Original schwarz-weißen Sammelobjekts, das in einer farbig überarbeiteten Version bei den Kunden sehr viel mehr Anklang fand als die korrekte schwarz-weiße Version. Aber auch Anfragen von (kommerziellen) Video-Produktionen, in denen historische Aufnahmen ohne entsprechende Verortung Verwendung finden sollen, stellen Archive vor ein Dilemma.

Einen Eindruck davon, wie komplex sich die Arbeit mit Archivmaterial bei einer Filmproduktion gestaltet, vermittelten die Schilderungen von Monika Preischl. Die „Bildfinderin“ gibt ihre Berufsbezeichnung als „Archive Producerin“ an. Sie übernimmt für Filmproduktionen nicht nur die Archiv-Recherche, sondern auch alle damit zusammenhängenden administrativen Aufgaben wie etwa Rechtsklärungen oder Vertragsabschlüsse. Spannend erzählte sie von den ungeahnten Hürden und Hindernissen ihres Berufes, etwa wenn Menschen, die in die Entstehung eines Films involviert sind, eigenständig im Internet recherchieren und dann Material in den Film einbauen möchten, das nach Preischls Abklärungen nicht zur Verfügung steht. Oder wenn Erben in einem Nachlass Filmdokumente entdecken und dies bei Rechte- und Preisverhandlungen dann ausnutzen.


Herausforderungen für Filmemacher

Die Dokumentaristin Luzia Schmid hat in ihren Filmen häufig Archivmaterial verwandt, etwa in „Der Ast auf dem ich sitze – Ein Steuerparadies in der Schweiz“. In Solothurn lief ihr neuester Film „Trained to See:Three Women And the War“. Auf dem Podium schilderte sie sehr anschaulich die Kämpfe, mit welchen sie sich bei dem ausschließlich aus Archivmaterial gefertigten Werk in der Montage konfrontiert sah.

"Trained to See - Three Woman at War": Margaret Bourke-White, 1934 (© Oscar Graubner)
"Trained to See - Three Woman at War": Margaret Bourke-White, 1934 (© Oscar Graubner)

Im Zweiten Weltkrieg ließen die USA zum ersten Mal Frauen bei der Kriegsberichterstattung zu. „Trained to See“ verfolgt die Wege und Arbeiten der Fotoreporterin Margaret Bourke-White, der Schriftstellerin Martha Gellhorn und der Kriegsreporterin Lee Miller während ihres Einsatzes im Krieg. Der Film nutzt dabei ausschließlich das von den Protagonistinnen erstellte Text- und Bildmaterial. In der Montage unterlegt Schmid die Bildaufnahmen und Berichte mit deren persönlichen Notizen, Briefen und Tagebucheintragungen. Das verpasst dem Film eine zusätzliche Dimension, die vor allem da spannend und erschütternd wird, wo die drei Protagonistinnen im Frühjahr 1945 in der direkten Konfrontation mit der deutschen Bevölkerung entdeckten, dass die Menschen, die sie bisher als Feinde wahrnahmen, eine ganz andere Wahrnehmung der Kriegsereignisse als sie selbst haben.


Kein Kommentar – aber eine klare Intention

Luzia Schmid und Volker Heise, aber auch Cem Kaya, der in Solothurn „Liebe,D-Mark und Tod“ vorstellte, arbeiten in ihren aktuellen Filmen ausschließlich mit Archivmaterial. Ihr Anliegen ist es, ein Ereignis oder eine historische Entwicklung nicht aus der Perspektive von heute zu erklären, sondern möglichst unverfälscht in ihrer historischen Wahrhaftigkeit auf die Leinwand zu bringen. Die Filmemacher enthalten sich dabei jeden expliziten Kommentars. Was aber nicht heißt, dass sie in ihrer Arbeit nicht eine Haltung einnehmen oder eine Intention verfolgen. Diese ist individuell sehr unterschiedlich. Wo Volker Heise über einen Medienskandal informieren, aber zweifelsohne auch unterhalten will, geht es Luzia Schmid um die Schilderung bekannter geschichtlicher Ereignisse aus einer spezifischen historischen Perspektive heraus. Cem Kaya konstruiert aus einer Fülle in Archiven gefundener Materialien, die er sich so lange aneignete, bis er in der Montage damit frei jonglieren kann, eine historische Entwicklung.

Cem Kaya hat sich schon in früheren Regiearbeiten – „Arabesk – Gossensound und Massenpop“ (2010) und „Remake, Remix, Rip-Off - Kopierkultur und das türkische Pop-Kino“ (2014) – auf der Basis von Found-Footage-Material mit der türkischen Popkultur, insbesondere der türkischen Musik und dem türkischen Film auseinandergesetzt. In „Liebe, D-Mark und Tod“ schildert er die Entwicklung der türkischen Exilanten-Musik in Deutschland seit der ersten großen Gastarbeiter-Welle in den 1960er-Jahren. Der Film ist pointiert montiert, überaus unterhaltsam und dank der reichhaltigen Tonspur auch mitreißend schwungvoll. Er enthält viel bislang unbekanntes Material und demonstriert, wie sich die Musik der in Deutschland lebenden Exiltürken, in der sich ihre soziale Situation spiegelte, im Laufe der Jahre anders als die Musikszene in ihrem Heimatland veränderte, eigene Stars und auch eigene Stile hervorbrachte.

"Liebe, D-Mark und Tod" (© filmfaust film five/Rapid Eye Movies)
"Liebe, D-Mark und Tod" (© filmfaust film five/Rapid Eye Movies)

Der Reiz des Gefundenen

Ab und zu wurden die Filmemachende in Solothurn gefragt, worin der Reiz der Arbeit mit von anderen gemachten Bildern bestehe. Eine direkte Antwort gab darauf niemand. Doch was verschiedentlich formuliert wurde, ist das Bedürfnis nach einer Art historischer Wahrheitsfindung. Man will nicht wissen, was andere aus der Sicht von heute über ein Ereignis erzählen, sondern das Geschehene möglichst authentisch vermitteln. Das macht in einer Zeit, die sich des Problems von „Fake News“ bewusst ist, durchaus Sinn – vor allem im Bereich des Dokumentarischen.

Auch an der Zürcher Hochschule der Künste wird das Thema am 23. und 24. März 2023 bei der Veranstaltung ZDOK.23 verhandelt. Diese findet unter dem Titel „Reality. Second Hand – Archivmaterial und Found Footage im Dokumentarfilm“ statt und verspricht eine Auseinandersetzung mit dokumentarischen Formen, die mit Bildern von anderen arbeiten, in ästhetischer, ethischer, politischer und ökonomischer Hinsicht.


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