© if... Productions/Filmperlen, Jonas Egert (Jörg Adolph beim Dreh zu „Vogelperspektiven“)

Die Kunst des geduldigen Blicks - Jörg Adolph

Warum sich der Dokumentarist Jörg Adolph nicht mit seinen Protagonisten gemein macht, obwohl er sie gut leiden kann und manchmal auch mit ihnen befreundet ist

Veröffentlicht am
07. März 2023
Diskussion

In seinem aktuellen Film „Vogelperspektiven“ (ab 16.2. im Kino) begleitet der Dokumentarist Jörg Adolph zwei Ornithologen beim Kampf um den Lebensraum für gefiederte Lebewesen. In dem Film lässt sich exemplarisch Adolphs Kunst studieren, den Protagonisten und ihren Leidenschaften nahe zu sein, ohne sich mit ihnen gemein zu machen.


Der Dokumentarist Jörg Adolph dreht seit Ende der 1990er-Filme. Es sind Werke „über Menschen, die mir etwas bedeuten, die ich so gut wie möglich darstellen möchte.“ Etwa die Mitglieder der Band The Notwist, die Adolph in „On/Off the record“ beim Entstehen ihrer Platte „Neon Golden“ begleitete. Oder Edgar Reitz und seine Crew in „Making of Heimat“ über das im 19. Jahrhundert angesiedelte Prequel zum Langstreckenepos aus dem Hunsrück. Auch dem Göttinger Verleger Gerhard Steidl widmete Adolph in „How to Make a Book with Steidl“ ein aufschlussreiches Porträt.

Adolph studierte Fernsehpublizistik und Dokumentarfilm an der Hochschule für Fernsehen und Film München. Zunächst sah er sich selbst eher im essayistischen Film. In der Ausbildung wurde ihm aber bewusst, dass ihm das Beobachtende des „Direct Cinema“ mehr zusagt. Einer der Filme, die ihn stark beeindruckt haben, war „Die Blume der Hausfrau“ von Dominik Wessely, angelehnt an den US-Klassiker „Salesman“ der Gebrüder Maysles. Doch statt Bibeln wie in „Salesman“ versuchten die Vertreter bei Wessely Reinigungssysteme zu verkaufen. „Er ließ das aussehen wie einen Western in der deutschen Provinz.“

Vogelperspektiven (© 2022 if... Productions/Filmperlen)
Vogelperspektiven (© 2022 if... Productions/Filmperlen)

Am Anfang seiner eigenen Filme stehe immer das persönliche Interesse, das Staunen. „Ich will wissen, wie die arbeiten. Wie machen die das? In meiner Jugend wollte ich Tischtennisprofi werden. Doch mir fehlte das Talent. Als Filmemacher konnte ich aber beim Bundestrainer anrufen und fragen: Wie wäre es, wenn ich die Nationalmannschaft ein Jahr lang bis zur Tischtennis-Europameisterschaft begleite?“ So drehte Jörg Adolph seinen Abschlussfilm über zwei junge Tischtennisprofis: „Klein, schnell und außer Kontrolle“.


      Das könnte Sie auch interessieren:


Danach sei er gespannt gewesen auf das neue Album seiner Lieblingsband The Notwist – und durfte viele Monate mit den Musikern im Studio verbringen, als sie das Album „Neon Golden“ aufnahmen. „Während dieser Dreharbeiten waren wir auch in London in den Abbey Road Studios. Dort lag ein Artikel über Menschen aus, die von England nach Frankreich schwimmen. Das brachte mich auf den Gedanken, zu den Kanalschwimmern zu fahren.“

Mit The Notwist und anderen Künstlern aus dem oberbayerischen Weilheim hat Adolph immer wieder zusammengearbeitet. Auch die Musik zu seinem aktuellen Film „Vogelperspektiven“ hat mit Acid Pauli ein Musiker aus dem Notwist-Orbit beigesteuert.


Auf der Spur des „Nature Writing“

In „Vogelperspektiven“ versucht Jörg Adolph, „den beobachtenden Dokumentarfilm mit poetischer Naturbeobachtung zu verbinden.“ In der Tradition des Nature Writing teilt jemand in Form einer Ich-Erzählung seine Wahrnehmungen mit. Bei den Recherchen stieß Adolph auf Arnulf Conradi und sein Buch „Zen und die Kunst der Vogelbeobachtung“. „Ich zeige politischen und poetischen Aktivismus. Mein Film ist vielleicht eine Art Kuckucksei: Die Schale mag sich dem Genre des Naturfilms annähern, im Kern ist es aber ein klassischer Dokumentarfilm mit vielen Gesprächsszenen.“

Hauptfigur ist der Vorsitzende des Landesbunds für Vogel- und Naturschutz in Bayern (LBV), Norbert Schäffer. „Im Zentrum des Films steht damit jemand, der in den Hinterzimmern die Weichen stellt und dafür die Perspektive der Vögel einnimmt. Schäffer ist zu hundert Prozent Biologe, vollkommen unideologisch. Deshalb sprechen alle auch gerne mit ihm. Aber man wird kein Ornithologe, wenn man in die faszinierende Welt der Vögel nicht verliebt ist. Er überzeugt die Leute: fein, leise, mit Substanz, ohne apokalyptisch zu werden.“

Der Biologe Norbert Schäffer (r.) ist Protagonist in „Vogelperspektiven“ (© 2022 if... Productions/Filmperlen)
Der Biologe Norbert Schäffer (r.) in „Vogelperspektiven“ (© 2022 if... Productions/Filmperlen)

„Vogelperspektiven“ ist nicht nur der Titel von Adolphs jüngstem Film. Der Begriff lässt sich auch auf die Arbeitsweise des beobachtenden Dokumentarfilmers selbst übertragen: Das Geschehen von außen beobachten, es nicht mit einem erzählenden Kommentar werten. Keine Interviews, keine vor der Kamera platzierten Talking Heads, die den Film plaudernd vorantreiben. Die von Adolph gewählte Form ist aber weder neutral noch objektiv. Was in seinen Filmen zu sehen ist, resultiert aus seiner Auswahl.

Zugleich vermittelt sich aber jederzeit auch Adolphs erklärtes Interesse an den Porträtierten. Einen investigativen Anspruch verfolgt er dabei nicht. Der Verzicht auf Kommentare oder Interviews hat es allerdings in sich: „Wenn man ohne Kommentar arbeitet, benötigt man deutlich längere Drehzeiten und muss Situationen finden, die aus sich heraus verständlich sind. Es sieht einfach aus, ist aber mühsam.“


Der Ärger um „Elternschule“

Gemeinsam mit Ralf Bücheler hat Adolph „Elternschule“ (2018) gedreht. Darin begleitet er Ärzte, Pflegerinnen und Psychologen einer Kinder- und Jugendklinik in Gelsenkirchen bei der Arbeit mit Eltern. Es ist ein Film, der das Publikum fordert und oft schwer auszuhalten ist. „Elternschule“ hat für mächtig Aufruhr gesorgt. Die beobachtende Haltung wurde als Parteinahme für die lieblose Behandlung von Kindern missverstanden: „In den Sozialen Medien wurde der Film als eine Art ,Horrorfilm‘ beschrieben, und die Klinik als ein Ort, an dem Kinder seelisch gebrochen werden. Es ist absurd. In diesen Kommentaren wurde jede Differenzierung ausgeklammert.“

Vielfach verkannt: „Elternschule“ (© Zorro)
Vielfach verkannt: „Elternschule“ (© Zorro)

Wenn Adolph heute darüber erzählt, vermittelt sich noch immer eine Ahnung des Schocks, den die öffentliche Aufregung um „Elternschule“ in ihm auslöste. Die Diskussionen über den Film wurden auch durch ein Missverständnis überlagert: „Für jeden, der Kinder hat, ist der Film ein Muss“, hieß es in einer Kritik der „Süddeutschen Zeitung“. Dass der Film nicht als allgemeine Anleitung zur Erziehung gedacht war, ging dadurch unter.

Auf der DVD zu „Elternschule“ gibt es neben einem umfassenden Booklet einen Audiokommentar des Psychologen Dietmar Langer. Doch um sich auf dessen Gedanken einzulassen, muss man dem Film ein gewisses Maß an Wohlwollen entgegenbringen. Solche Feinheiten gingen im öffentlichen Getöse aber unter: Die Facebook-Seite zum Film musste offline genommen werden; die Kinotour wurde „wegen organisierter Störungen der Vorstellungen und Drohungen gegen Gäste und Kinobetreiber“ vorzeitig beendet. Der Deutsche Kinderschutzbund warf dem Film vor, er enthalte physische und psychische Gewalt gegen Kinder. Adolph wurde von diesen Reaktionen komplett überrascht. „Wir hatten ja vorher nur gute Kritiken zum Film in der Presse bekommen und schöne Erfahrungen auf Festivals gemacht. So ein Shitstorm gräbt sich einem unter die Haut und bestimmt alle Gedanken. Wir machten uns auch große Sorgen um die Protagonisten.“

Adolph kommt seinen Figuren nahe. Offene Bedingungen sind ihm dabei wichtig. „Wenn ich ein Filmprojekt meinen Protagonisten vorstelle, mache ich klar: Wir müssen alles filmen können, brauchen offene Türen.“ Beim LBV fand er diese Offenheit vor.


Nähe und Distanz

Doch der Name, den Adolph sich in den letzten Jahren gemacht hat, scheint ihm in seiner Arbeit keinen Vorteil zu bringen. Die Fernsehsender habe immer weniger Verständnis für beobachtende Dokumentarfilme. Vorbei sind die Zeiten, in denen Pioniere des Dokumentarfilms wie Eberhard Fechner selbst in öffentlich-rechtlichen Redaktionen arbeiteten. Heute wirkt das Verhältnis von Filmemachern und Sendern deutlich distanzierter: „Es wird immer schwieriger, Stoffe zu platzieren, die sich ins Offene bewegen, die Subtilitäten und Ambivalenzen zulassen. Viele Filme lassen den Zuschauern keine Freiräume mehr für eigene Gedanken und Entdeckungen, sondern kauen alles mundgerecht vor. Dagegen kämpfe ich mit meinen Filmen an.“

Darsteller Jan Schneider und Regisseur Edgar Reitz in „Making of Heimat“ (© if... Productions/Ingo Fliess)
Darsteller Jan Schneider und Regisseur Edgar Reitz in „Making of Heimat“ (© if... Productions/Ingo Fliess)

Wie sich die Haltung der Sender zum Film verändert hat und welche Ansprüche bestimmte dramaturgische Korsette an dokumentarische wie fiktionale Formate gleichermaßen stellen, das lässt sich auch in den Erinnerungen von Edgar Reitz mit dem Titel „Filmzeit, Lebenszeit“ nachlesen. Adolph begleitete Reitz bei den Dreharbeiten zu „Die andere Heimat“ (2013). Die dabei entstandene Dokumentation trägt zwar den Titel „Making of Heimat“. Anders als die „Making ofs“ großer Studiofilme, die sich seltsam distanzlos an die Zuschauer herankumpeln, so als wären diese mit den Protagonisten persönlich bekannt, bewahrt „Making of Heimat“ sich die ganze Zeit über etwas Distanziertes – um vielleicht gerade dadurch seinen Figuren besonders nahezukommen. Denn hier hat auch der Zweifel einen Platz: Ist ein junger Anwärter auf die Hauptrolle wirklich geeignet, den Film drei Stunden zu tragen?

Man sieht Reitz als beharrlich-ernsten Arbeiter, der auch sehr autoritär werden kann: „Sie können mit mir so nicht umgehen“, verteidigt sich der Regisseur auf einer Bürgerversammlung gegen Vorwürfe eines Anwohners, der sich bei den Planungen der Dreharbeiten übergangen fühlt. Ein Filmprojekt wie „Die andere Heimat“ in Angriff zu nehmen, erscheint als gigantomanische Aufgabe, die ein bisschen an die Torturen beim Hinüberwuchten eines Schiffes über einen Berg in „Fitzcarraldo“ von Werner Herzog erinnert, der in „Die andere Heimat“ einen kurzen Auftritt als Alexander von Humboldt hat. Zum Selbstverständnis eines Filmemachers gehöre „die Forderung nach bestimmten Freiheiten“, heißt es im „Making of Heimat“ einmal.


Scheitern nicht ausgeschlossen

Auch nach den „Vogelperspektiven“ soll der filmische Fluss im Schaffen von Jörg Adolph nicht abreißen: „Ich entwickle gerade einen Dokumentarfilm, der von einem besonderen Therapie-Setting in einer psychosomatischen Klinik erzählt. Es ist vielleicht auch eine Art Trotzreaktion, dass ich nach „Elternschule“ nun wieder plane, einen Film in Klinikräumen zu drehen. Aber es ist schwierig, dort gute Bedingungen und offene Türen zu finden. Daneben gibt es aber auch drei weitere Projekte, die schon fortgeschritten sind, die aber auch alle noch scheitern können.“

How to Make a Book with Steidl (© if... Productions/Ingo Fliess)
"How to Make a Book with Steidl" (© if... Productions/Ingo Fliess)

Kommentar verfassen

Kommentieren