© Woche der Kritik ("Shin Ultraman")

Jenseits von Geschlecht und Maskulinität

Mittwoch, 01.03.2023 15:52

An zwei Abenden der „Woche der Kritik“ verhalfen Genrefilmen den Gender- und Männlichkeitsdiskursen zu neuen Impulsen

Diskussion

Unter dem Generalmotto „Wer kümmert sich ums Kino“ befragte die „Woche der Kritik“ auch das Genrekino. Und entdeckte in den japanischen „Kaiju“-Monstern oder alten und neuen „Midnight Movies“ viel kreatives Potenzial, sich drängenden Fragen der Gegenwart zu stellen.


„Wer kümmert sich um das Kino?“, lautete die Frage, mit der die „Woche der Kritik“ 2023 eröffnete. Diese Frage wurde mit Blick aufs Genrekino dann noch einmal neu und vor allem anders gestellt. Neben dem allgemeineren Gedanken „Wer kümmert sich eigentlich um das Genrekino?“ stellte die japanische Superhelden-Hommage „Shin Ultraman“ (2022) von Shinji Higuchi eine sehr konkrete Frage: Wer kümmert sich um uns, wenn die Herausforderungen der Menschheit buchstäblich zu groß werden?

Die Neufassung des 1966 von Eijis Tsuburaya fürs Fernsehen konzipierten titelgebenden Beschützers ist 60 Meter groß und 2900 Tonnen schwer. Ein sanfter, „Ultraman“ getaufter Riese, der die Menschheit zunächst vor einer Gefahr bewahren muss: Die haushohen „Kaiju“-Monster, die der Filmgeschichte und der Logik des Films nach ausschließlich in Japan auftauchen – einer der Protagonisten des Films bemerkt es mit augenzwinkernder Verwunderung –, sind das Resultat einer wachsenden Verseuchung von Flora und Fauna.



In „Shin Ultraman“ tauchen diese Monster nicht nur am Land auf, sondern manifestieren sich unter der Erde und in den Tiefen des Ozeans, um schließlich ihren Weg ins Herzen der japanischen Zivilisation anzutreten, weil sie Atommüll und Elektrizität konsumieren und dabei ganze Städte verwüsten.


Sanfte Riesen als Gegenentwurf

Die im Film wie im Kaiju-Subgenre allgemein gestellten Fragen rund ums Verhältnis von Mensch und Umwelt oder wissenschaftlicher und technologischer Ethik traten in der Diskussion nach der Vorführung zunächst in den Hintergrund. Denn es sollte primär um die „Gentle Giants“, die sanften Riesen, selbst gehen. Der im Kurzfilm „Serrão“ auftretende, mit bionischen Augen sichtverstärkte Rapper ist dabei eher eine Fußnote denn ein gleichberechtigter Kollege von Ultraman. Japans riesiger Beschützter wird als posthumanistischer Gegenentwurf zur traditionellen Rolle des männlichen Beschützers diskutiert: eben nicht der ultimative Mann, sondern etwas, was jenseits der bekannten Topoi des männlichen Beschützers, jenseits der toxischen patriarchalen Strukturen und sogar jenseits des allzu Menschlichen liegt.

Als extraterrestrisch-menschliches Hybridwesen transzendiert Ultraman Geschlecht und Maskulinität, was die Diskutierenden als hoffnungsvolles Zeichen deuteten, wenngleich das Panel sich darüber einig war, dass die Idee des Posthumanistischen in „Shin Ultraman“ allzu steril und der moralische Fluchtpunkt („Es ist immer besser, wenn zwei ihren Streit mit Worten beilegen“) allzu naiv erscheint, insbesondere im Vergleich mit den Klassikern des Genres.

Im Unterschied zu vielen Beispielen des Genres, die mit aggressiven Angreifern, unschuldigen Opfern und gesittet-liebevollen Töchtern eine ganze Reihe von Stereotypen als Schablone benutzen, passt der sanfte Riese in „Shin Ultraman“ zu der in der Diskussion aufgegriffenen Hoffnung, dass die Menschheit, obschon die Sünden gegen den eigenen Planeten kein Ende finden, zumindest damit beginne, vergangene Vorstellungen von einer in ihrer Aggression nützlichen Maskulinität hinter sich zu lassen.


Um Mitternacht ins Kino

Der Genrebegriff, den die „Woche der Kritik“ unter dem Titel „Midnight Metabolism“ diskutierte, blickte hingegen wirklich zurück in die Vergangenheit. In eine aus heutiger Sicht allerdings allzu romantische Vergangenheit, die den mitternächtlichen Gang ins Kino als etwas Rituelles begriff, ein Ereignis, das durch seine Wiederholung zu einer Art von mythischer Realität wurde. So jedenfalls beschrieben es J. Hoberman und Jonathan Rosenbaum in ihrem bis heute maßgeblichen Buch „Midnight Movies“ (1983).



Nur ein Jahr zuvor entstand der von Stephen Sayadian und Mark S. Esposito gedrehte Avantgarde-Porno „Café Flesh“, der als solcher ein Misserfolg war, als Midnight Movie aber ein zweites Leben gewann. Der Begriff erscheint heute, in einer Zeit, die das Kino als sozialen Raum weitgehend vergessen hat, nicht mehr zeitgemäß. Der von der „Woche der Kritik“ gewählte Zusatz „Metabolism“, sprich: „Stoffwechsel“, lässt sich, ein sehr romantisches Verständnis des Kinos vorausgesetzt, als Versuch interpretieren, dem Genre einen neuen Körper zu geben.

Der rote Faden in den abendlichen Diskussionen zwischen den Filmen war die dazu passende Schwierigkeit: nämlich ein kollektiv gestörter Stoffwechsel als formales Potenzial. „Café Flesh“ teilt die Menschheit entlang der Begriffe positiv und negativ. 99 Prozent der Menschen sind sex-negativ, weil sie bereits bei einer schlichten Berührung krank werden. Die restlichen ein Prozent bleiben der Welt erhalten, um zu lieben und diesen Akt im titelgebenden Café Flesh öffentlich zu performen.

Der offenkundig auf die AIDS-Epidemie verweisende Marker der dystopischen Vision von Sex ist kein Zufall. Den historischen Moment der damals beginnenden Epidemie und der dazugehörigen Stigmatisierung von Homosexualität erkennend, verschalten Sayadian und Esposito Krankheit und Libido zu einer dystopisch-avantgardistischen Vision der Sexualität.


Auf Produktives hin öffnen

„Mission to Mars“ (2022) von Amat Vallmajor del Pozo versuchte sich als zweiter Film im Programm an einer nicht weniger dystopischen, aber ästhetisch ungleich tristeren Zukunftsvision, die einem verfallenden Körper ein letztes Aufbäumen zu schenken gedenkt. Und in „The Fifth Thoracic Vertebra“ (2022) von Syeyoung Park erwachen die Abfälle der hyperkapitalistischen koreanischen Gesellschaft zum Leben, in diesem Fall Pilze in einer Matratze, die das menschliche Rückenmark aussaugen.

"The Fifth Thoracic Vertebra" (imago images)
"The Fifth Thoracic Vertebra" (© imago images)

Durch die Programmierung der „Woche“ stand da ein verkannter Klassiker, der kraft seines Kultstatus gegen den Kanon vorstößt, neben zwei eher spröden, weit von der Mitternacht entfernten Debütfilmen. Die Idee in den allzu jungen Genrebeiträgen, die fossilisierten Formen eines ausgestorbenen Subgenres zu finden, mag zunächst ebenso befremdlich erscheinen wie der Einfall, einen 60 Meter großen, fast sechszig Jahre alten Ultramann auf dessen Platz in Gender- und Männlichkeitsdiskursen abzuklopfen. Und doch schafften es beide Abende im Rahmen der „Woche der Kritik“, den Genrebegriff auf etwas Produktives hin zu öffnen. Vielleicht kann ein 60 Meter großer, fast 60 Jahre alter Ultramann im Diskurs ebenso neu geboren werden wie ein den Leerstellen der Filmgeschichte entrissener Kultfilm.

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