© Aurora Films ("La Bête dans la jungle")

Berlinale-Blog #10 – Nach einem langen Tag

Freitag, 07.07.2023 12:52

Ein Rückblick auf zehn Tage Berlinale und einen Film, der an das Gefährliche und Unbekannte in unserer Existenz erinnert

Diskussion

Nach zehn langen Berlinale-Tagen stellt sich die Frage, was von diesem Festival bleibt und den Fluss der Bilder überdauert. Vielleicht ein Werk wie „La Bête dans la jungle“ von Patric Chihas, in dem eine Kurzgeschichte von Henry James in die Gegenwart ploppt, über zwei, die die Welt vom Rande aus beobachten.


Auf den Fenstern des Zuges, mit dem ich Berlin verlasse, sammeln sich feine Schneekristalle. Ich blicke durch sie zurück auf einige Tage mit dem Kino, die ich kaum als geordnetes oder zusammenhängendes Ganzes greifen kann. Stattdessen regt sich noch einmal das Begehren in mir, das Kino über das zu verstehen, was mir in ihm fehlt. Dabei hilft einer der schönsten Filme des Jahrgangs, Patric Chihas in Licht, Farben und Musik verliebte Henry-James-Adaption „La Bête dans la jungle“. Dieser Film neigt sich in eine nahende Nacht, in der bereits jene Sehnsüchte und Ängste nisten, die bei Tageslicht nur selten hervortreten.

Chiha arbeitet an der Musikwerdung seiner Filme, sein künstliches Licht berichtet aus einer ganz und gar gegenwärtigen und doch auch abwesenden Wirklichkeit, in der sich die Schritte zwischen Halbschlaf, Tanzfläche, Berührungen und Blicken zu einem unwiderstehlichen Rhythmus verdichten. „La Bête dans la jungle“ erkundet das Gefährliche und Unbekannte in unserer Existenz; der Film versteht sich als verspielte Befreiung und als befreites Spiel.

Ich kann mich erinnern, dass man im Kino einst Eintrittskarten für solche „Clubs ohne Namen“ erhalten konnte, wie sie in diesem Film betreten werden. Ein Festival wie die Berlinale, eingebettet in den unablässigen Strom dieser zugleich merkwürdig leeren und überfüllten Stadt, in der viele umherirrende und nach den Sternen greifende Menschen den Geheimnissen des Lebens nachjagen, wäre prädestiniert für eine gesamtheitliche Rauscherfahrung an Bildern und Tönen, einem Fest der Nächte (denn im Kino ist es immer eher Nacht als Tag), wie sie von Chiha so absolut gefilmt werden.

Dieses Kino gibt es aber nur im Film. Was man auf der Berlinale in und um die Kinos erlebt, ist steriler. Die Träume, die man dort ausleben soll, sind von Uber und Armani gesponsert. Für Gefühle gibt es Preise. Politische Statements verkommen zur reinen, unglaubwürdigen Repräsentation. Eine reguläre Vorstellung kostet unfassbare 15 Euro, am letzten Tag, dem sogenannten Publikumstag (was sind die anderen Tage?) sind es 11 Euro. Möchte man wirklich zu viel, wenn man nur ein wenig Nacht sucht im Kino?

Ich drücke mich womöglich nicht richtig aus. Ich versuche es noch einmal. Ich war lange nicht auf einem großen Festival, weil mich die Art und Weise, in der dort mit Filmen und Menschen umgegangen wird, abschreckt. Die Berlinale 2023 hat mir gezeigt, dass sich daran in den letzten Jahren nichts verändert hat. Nur weil man einige gute Filme sieht, heißt das nicht, dass es sich um ein gutes Festival handelt.

Allerdings fehlt es den meisten von uns aber an Vorstellungen darüber, wie ein gutes Festival aussehen könnte und für die Berlinale gibt es sicher wichtigere Aspekte, als eine angenehme, respektvolle, flirrende, die Nacht umarmende Erfahrung zu generieren. Die muss man sich selbst schaffen. Das aber geht - eine wahrlich vertröstende Erkenntnis für mich - selbst an diesen kalten Orten neoliberaler Gleichgültigkeit, weil die Ausnahmen umso heller leuchten, wenn es dunkel ist. Und weil die Nacht umso größer scheint nach einem langen Tag.


Die vorherigen Folgen des Berlianle-Blogs von Patrick Holzpafel

Berlinale-Blog #9 - Weinen, nicht jammern

Berlinale-Blog #8 – Ohne Titel

Berlinale-Blog #7 – Die Kraft der Überraschung

Berlinale-Blog #6 – Sohrab Shahid Saless

Berlinale Blog #5 – Der Strom der Worte

Berlinale-Blog #4 - Filmsamen

Berlinale-Blog #3 - Being in a Place

Berlinale-Blog #2 - Zoologie des Kinos

Berlinale-Blog #1 - Cinema of Care

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