Der Caligari-Filmpreis für einen herausfordernden Beitrag aus dem Forums-Programm der Berlinale hat 2023 einen würdigen Preisträger gefunden: „De Facto“ von Selma Doborac. Darin geht es mit großer dokumentarischer Strenge um ein tieferes Verständnis individueller wie kollektiver Gewaltverbrechen. Annäherungen an einen konzeptionell kühnen Film, der neue Möglichkeiten im Umgang mit historischem Material eröffnet.
Ein jüngerer Mann (Christoph Bach) sitzt der Kamera gegenüber an einem Tisch. Doch die Erwartungen an eine Standardsituation des Dokumentarischen, das Interview, werden vom ersten Satz an irritiert. Das Gespräch scheint dem Inhalt nach schon längst im Gange zu sein; die Zuschauer scheinen zu spät zu kommen und die Vorstellung des filmischen Gegenübers verpasst zu haben. Durch die fehlende diskursive Rahmung treffen die Worte des Mannes in ihrer unmittelbaren Kraft umso härter. In einer schnellen, unablässigen Rede schildert er seine eigene Beteiligung an schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Vielfältige historische Referenzen tauchen auf, einige lassen sich deutlicher kontextualisieren. Dass der am Tisch sitzende Protagonist durchaus Verständnis habe aufbringen können, wie er sagt, wenn die ihm damals unterstellten Häftlinge keine Lust mehr verspürten, mit ihm, dem Peiniger, Fußball zu spielen, wenn sie kurz zuvor so malträtiert wurden, dass sie in ihrem eigenen Kot liegenblieben.
Die Worte des Mannes sind drastisch, erzeugen beim aufmerksamen Zuhören aber doch eine Spannung. Auch wenn man noch nie davon gehört haben sollte, dass im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau Ballspiele der Häftlinge toleriert (und instrumentalisiert) wurden, wird spätestens dann, wenn der Protagonist von ihnen als „Stücken“ spricht, deutlich, dass es beim filmischen Setting von „De Facto“ nicht um einzelne Täter, sondern um eine szenische Reflexion von Täterschaft in einem anthropologischen Sinne geht.
Quer zur historischen Situierung
In die Rede mischen sich beiläufige Anglizismen wie „What goes around comes around“ und andere Elemente zeitgenössischer Alltagssprache. Ihre unheimliche Gegenwärtigkeit irritiert und unterläuft das Bemühen um eine historische Situierung der Aussagen zusätzlich. Noch augenfälliger erscheint beim längeren Zuhören ein Meta-Diskurs, den der Protagonist anstimmt, wenn er sich bei seinen Ausführungen auch auf literarische und protokollarische Zeugnisse von Überlebenden bezieht und damit eine Festlegung auf eine historisch-individuierte Rolle weiter verunmöglicht. Auch wenn sich die Rede sprachlich an ein Gegenüber richtet, bleibt dieses den ganzen Film über unsichtbar und stumm.
Die Frage des „Wer spricht?“ wird in „De Facto“ von Beginn an aus gutem Grund unterlaufen. Denn es sind gerade die scheinbar klaren Positionierungen, die in Bezug auf politische Gewalt eine falsche Sicherheit versprechen. In jahrelanger Recherche hat die Regisseurin Selma Doborac unterschiedlichste Quellen studiert, darunter Gerichtsprotokolle des Internationalen Strafgerichthofes in Den Haag, Zeugenaussagen und Täterberichte aus einer Vielzahl geschichtlicher Kontexte. An ihnen lassen sich universelle Dynamiken von Gewalt erkennen, die über das Historisch-Spezifische der Verbrechen hinausgehen. Sich mit ihnen zu konfrontieren, verunsichert moralische Gewissheiten und Distanzierungen, weil die beunruhigende Möglichkeit ihrer Wiederkehr ins Bewusstsein rückt. Zugleich wird dadurch aber erst eine tiefgreifende analytische Reflexion möglich, die der Unmenschlichkeit etwas entgegensetzen kann.
Form und Abstraktion
„De Facto“ stellt sich dieser Herausforderung durch eine Konzentration auf die künstlerische Form, die von Beginn an durch die klare Inszenierung des Settings gesetzt wird. Der an einem Tisch sitzende Protagonist befindet sich in einem kühl stilisierten Raum, dessen Abstraktionscharakter an der entschiedenen Komposition des filmischen Bildes sogleich deutlich wird. Die Architektur des Gebäudes wird in ihrer Gänze erst in der letzten Einstellung von außen als solche erkenn- und befragbar. Ihre symbolische Konnotation ist zunächst weniger wichtig als ihre konkrete Gestaltung durch große, fensterlose Öffnungen, die im Hintergrund des Protagonisten sichtbar und hörbar einen Blick in ein Außen voller rauschender Bäume ermöglichen.
Die Statik des Innenraums tritt in Spannung zur Erfahrung der Dauer, die sich in Echtzeit durch Blätterbewegungen, Donnergrollen und das langsame Verschwinden des Tageslichtes entfaltet. Auch der dreibeinige Tisch, der den gesamten Film über Angelpunkt des Bildes bleibt, ist vor allem anderen eine kraftvolle formale Setzung. Neben den vielfältigen Assoziationen, die sich durch die Spiegelungen in seiner dunklen Oberfläche ergeben, schafft er zunächst eine Aufmerksamkeit für den künstlerischen Formwillen der Szene und ihre räumliche Kondensation. Aus ihr vermittelt sich beim Zusehen immer wieder ein Gefühl von Irritation, das durch die drei Tischbeine zwischen monumentaler Statik und Instabilität schwankt. Wenn der Protagonist manchmal eines seiner Beine hinter dem anderen verschränkt und damit optisch verschwinden lässt, verdoppelt sich dieser Eindruck unwillkürlich.
Auch die Folge der Auf- und Abblendungen ist streng formalisiert. Nach einer langen Einstellung ohne Schnitte auf den erzählenden Protagonisten wird ihm nach einer Schwarzblende ein zweiter gegenübergestellt. Der ältere Mann (Cornelius Obonya) sitzt am selben Tisch, im selben Raum und doch in unterschiedlicher Anordnung. Während Protagonist 1 stets in der Ich-Form spricht, verwendet Protagonist 2 das doppeldeutige „Du“. Es lässt sich als eine Art innerer Monolog verstehen, der eine zweifelhafte Selbstdistanzierung von den eigenen Taten ermöglicht. Zugleich bleibt das Pronomen in seiner Eigenschaft der Ansprache offen für eine Mitadressierung des Zuschauers.
Während der jüngere Mann eher Dimensionen eines unmittelbar agierenden Soldaten verkörpert, vereint der Ältere Facetten eines höheren militärischen Strategen und Kommandanten, der unter anderem über seine gelegentlichen Besuche der Lager sinniert. Beide sind unauffällig und in zivil gekleidet, in einer Weise, die nur geringfügige Rückschlüsse auf den habituellen Hintergrund zulässt. Ihre szenischen Auftritte folgen einer präzisen, zeitlich genau gleich bemessenen Abfolge nach dem Schema A/B.
Rationalisierung und Souveränität
Was
in der filmischen Gegenüberstellung als Gemeinsamkeit aufscheint, ist eine
ambivalente Praxis der Rationalisierung des eigenen Verhältnisses zur Tat.
Beide Figuren grenzen sich negativ von den sogenannten „Perversen“ und
„Schlächtern“ ab, die in den Gräueltaten eine ekstatische Entgrenzung gesucht
haben. Sie schildern ihre Verachtung gegenüber dem enthemmten sadistischen
Genießen, das mit Vermischung, Unreinheit und langfristigem Kontrollverlust
einhergeht. Damit präsentieren sie sich als Akteure, die im Gegensatz zu ihren
bestialischen Kollegen in ihrer Sachlichkeit und sprachlichen Eloquenz noch ein
Gegenüber darstellen können. Beide sind in der unbestimmten Situation ihres
Erzählens bereits Teil einer gerichtlichen Aufarbeitung der eigenen Verbrechen.
Sie stellen sich der neuen Gesellschaftsordnung nach der Katastrophe
bereitwillig als Kooperateure und Kronzeugen zur Verfügung.
Sie nutzen die freie Gesprächssituation, um abseits der streng geregelten, an Fakten und Beweisen orientierten Ordnung des Gerichts von ihren tieferen Beweggründen zu berichten. Ihre Bereitschaft zur Verantwortung entlarvt sich dabei schon bald als eine weitere Form der gewaltvollen Souveränitätsanmaßung, wenn sie sich auf perfide Weise in ihre Opfer hineindenken und sich ihrer Zeugnisse sprachlich bemächtigen.
Auf diese Weise kommt eine tieferliegende Problematik der Gewalt ans Licht, die fast noch mehr beunruhigt als die der besinnungslosen Schlächter: das Vermögen von Tätern, sich auf instrumentelle Weise in ihre Opfer einzufühlen und sie dadurch nicht nur körperlich, sondern auch seelisch zu negieren und auszulöschen. Die psychologisch genau kalkulierten Folterungen in Abu Ghraib und das Wissen um die „erlernte Hilflosigkeit“ sind nur ein Beispiel für einen pervertierten, zweckrationalen Empathie-Begriff.
Dynamiken der Inhumanisierung
Im letzten Teil von „De Facto“ öffnet sich die Rede der Protagonisten zusätzlich für die philosophische Ideengeschichte der Vernunft und das, was die Psychoanalyse Trieb und Unbewusstes nennt. Während Protagonist 1 vermehrt über die Grenzen des juristischen Diskurses und des in ihm Sagbaren spricht und er damit implizit die Sprachlosigkeit und psychische Überwältigung der Opfer verhöhnt, sinniert Protagonist 2 über die Schönheit einer vermeintlich naturgegebenen Vernunft, die ihm als kreatürliche Rechtfertigung einer mörderischen, völkischen Idee dient. Unwillkürlich kommen einem die Thesen von Horkheimer und Adorno mit ihrer „Dialektik der Aufklärung“ in den Sinn. Die Ratio als zentrale Figur des abendländischen Denkens wird zerstörerisch in dem Moment, wo sie ihr Anderes gewaltsam ausschließt, das Selbst-Identische gegen die Alterität setzt, mit dem Anspruch, sich zu totalisieren. Der Weg vom Unterlassen des Grußes auf der Straße bis hin zur Deportation des Anderen in ein Lager ist sehr viel kürzer als vermutet, gibt Protagonist 2 zu bedenken.
Ein roter Faden in „De Facto“ ist die Untersuchung dieser schleichenden Vorgänge der Entmenschlichung des Anderen. Sie können sich in extremer Weise auch im familiären Setting vollziehen, wie etwa im Fall von Natascha Kampusch, auf den die Rede des zweiten Protagonisten offensichtlich kurz Bezug nimmt. Im größeren sozialen Zusammenhang sind es vor allem Gruppendynamiken, die zum „Othering“ sowie einem Freund-Feind-Schema führen und eine Spirale der enthemmten Affekte gegen die künftigen Opfer in Gang setzen.
Beide Protagonisten korrespondieren miteinander auch dahingehend, dass der jüngere sich immer wieder auf einen Diskurs bezieht, den der ältere im Sinne einer Ideologie lange vorbereitet hat. „Das wurde uns so gesagt“, oder „Das macht man eben so“ meint hier nicht nur das Befolgen von Befehlen, auf das sich Täter bei ihren Rechtfertigungen oft beziehen, sondern auch bestimmte Praktiken, wie das Verwenden von Tiernamen oder die Verweigerung des Mitgefühls. Auch die verbreitete Tendenz, sich selbst als eigentliches Opfer der Tat darzustellen, die somit als notwendige Pflicht oder Bürde mit Pathos aufgeladen werden kann, nimmt „De Facto“ analytisch in den Blick. Hier wird eine besondere Form der Obszönität von Täterschaft rhetorisch als rationalisierende Verdrehung und Entlastung anschaulich.
Zwischen Text und Subjekt
Vom ersten Augenblick an entwickelt „De Facto“ durch die Genauigkeit und Komplexität des geschriebenen Textes eine Sogwirkung, die sich immer mehr auf eine Denkbewegung hin öffnet. Paralysierende Momente der Schilderungen von genozidalen Verbrechen werden von historischen und philosophischen Referenzen unterbrochen, wodurch die Rede ihre eigene Reflexion anstößt. Wenn beispielsweise von einem Radiosender zu hören ist, der Autokennzeichen von zu tötenden „Kakerlaken“ durchgibt, dann erkennt man – auch durch die Bekanntheit der Arbeiten von Milo Rau wie „Hate Radio“, den konkreten Bezug auf dokumentierte Taten während des Völkermordes in Ruanda.
Zugleich geht Selma Doborac in der Reflexion von Täterschaft noch viel weiter, als es Milo Rau beispielsweise in einer szenischen Lesung von „Breiviks Erklärung“ versucht hat. In „De Facto“ geht nicht nur darum, die dokumentierten Äußerungen von Tätern als Diskurs ernst zu nehmen und durch eine Verschiebung in den ästhetischen Kontext zu denken zu geben, sondern um eine doppelte Reflexion: die der Rede durch ihre intertextuelle Einbettung sowie ihrer szenischen Verkörperung durch die beiden Schauspieler. Die beeindruckende Intensität, die Christoph Bach und Cornelius Obonya entwickeln, stellt sich gerade nicht durch ein identifizierendes Spiel her, das sich im Sinne des Method-Acting in einen bestimmten Täter hineindenken würde, sondern durch die prekäre Balance zwischen der szenischen Aneignung des gesprochenen Wortes und einer Rücknahme der schauspielerischen Intention. Dadurch entsteht eine de-subjektivierte Form der Sprache, in der das individuelle Bewusstsein sich im Sinne des psychoanalytischen Durcharbeitens für die physische Kraft des Textes öffnet. Auch die Versprecher, die sich in den verschiedenen One-Takes manchmal ereignen, werden in diesem Sinne nicht als Fehler eliminiert, sondern als Manifestation einer unbewussten Reaktionsbildung auf den Text verstanden. Dabei wird auch deutlich, dass ein solches Sprechen von historischen Fragmenten an die eigene, transgenerational vermittelte historische Erfahrung anknüpfen und damit einen eigenen Evidenzcharakter annehmen kann. Das Dokumentarische des Quellenmaterials tritt im künstlerischen Prozess wieder (oder vielleicht auch das erste Mal) in Resonanz mit dem Körpergedächtnis.
Wenn Hegels Begriff des zu sich selbst kommenden „Weltgeistes“ oder Heideggers „Seinsgeschick“ Teil der Rede werden, dann rufen sie Diskurse einer idealistischen Philosophie ebenso auf wie die „Kritik der Totalität“ von Emmanuel Lévinas. Die Instrumentalisierung des Lebens durch die von Foucault beschriebene Biopolitik tritt in einen Dialog mit einer Kritik einer technokratischen „Enteignung des Todes“.
Allerdings sind weder die historischen noch die philosophischen Diskurse in „De Facto“ als indexikalisches Referenzsystem gedacht. Daher werden die Quellen im Abspann bewusst nicht genannt. Sie sind eher Komponenten eines vielschichtigen Resonanzraumes. Auch das ist im Sinne der Form des Films konsequent, denn es geht weder für die Schauspieler noch für die Zuschauer um eine Beherrschbarkeit der Rede, welche die „mittlere“ Position zwischen Text und Subjekt zugunsten einer distanzierenden Gegenüberstellung auflösen würde. In Bezug auf die Durcharbeitung von Gewalt besitzt das auch eine ethische Komponente, in der eine Öffnung gegenüber dem oft Abgewehrten, Furchteinflößenden entstehen kann.
Selma Doborac gelingt gemeinsam mit ihren Akteuren mit „De Facto“ eine ebenso außergewöhnliche wie eindringliche Weiterentwicklung der Möglichkeiten künstlerischer Zeugenschaft und der Arbeit mit dokumentarischem Material.